HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1037
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 194/11, Urteil v. 09.08.2011, HRRS 2011 Nr. 1037
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 26. November 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die von dem Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Spätestens im Februar bzw. März 2010 gelangte die Angeklagte zu der Überzeugung, ihre ehemalige Freundin und Arbeitskollegin R. versuche durch "legale Machenschaften" ihr Leben zu zerstören. Sie trug sich deshalb mit dem Gedanken, sich an R. zu rächen und sie "ggf." zu töten. Am 15. März 2010 rief sie, ohne ihren Namen zu nennen, bei R. an und teilte ihr mit: "Du bist tot." Im Anschluss daran bemühte sie sich darum, eine Schusswaffe zu erwerben, mit der sie R. erschießen wollte. Ihre Bemühungen scheiterten aber. Schließlich packte sie am 13. Mai 2010 (Christi Himmelfahrt) mehrere Messer und einen Teleskopschlagstock in ihre Tasche und fuhr zu R., um gegen diese "eine erhebliche Gewalttat" zu verüben (UA S. 12) bzw. diese mit einem Messer anzugreifen und "unter Umständen lebensgefährlich" zu verletzen (UA S. 38).
Bewaffnet mit einem Brotmesser mit einer Klingenlänge von etwa 13 cm gelangte die Angeklagte unbemerkt in das Wohnhaus, in dem sich die Wohnung ihrer ehemaligen Freundin befand. Sie klingelte an der Wohnungstür. Nach ihrem Tatplan wollte sie das Überraschungsmoment ausnutzen und R. unmittelbar nach dem Öffnen der Tür angreifen (UA S. 34). Entgegen ihrer Erwartung wurde die Wohnungstür aber nicht von ihrer ehemaligen Freundin geöffnet, sondern von deren Lebensgefährten, dem Geschädigten H. Die Angeklagte richtete ihr Messer gegen seinen Oberkörper, machte eine Stichbewegung und versuchte, sich an ihm vorbei in die Wohnung zu drängen. H. gelang es jedoch, die Angeklagte zu umklammern und festzuhalten. Um sich zu befreien, schnitt die Angeklagte ihm mit dem Messer in den linken Unterarm. Als er sie dennoch nicht losließ, biss sie ihm in den Arm. Daraufhin gelang es H., die Angeklagte in das Treppenhaus zu schieben und die Tür hinter ihr zu verschließen.
b) Das Landgericht hat einen Tötungsvorsatz hinsichtlich des Geschädigten H. im Wesentlichen mit der Erwägung verneint, dass das eigentliche Angriffsziel der Angeklagten nicht der Geschädigte, sondern dessen Lebensgefährtin R. gewesen sei. Gegen diese habe sich die ganze Wut der Angeklagten ausschließlich gerichtet. An dem Geschädigten habe sich die Angeklagte zunächst nur vorbeidrängen wollen. Aus der Schnittverletzung lasse sich ebenfalls kein Rückschluss auf einen Tötungsvorsatz ziehen, da die Angeklagte sich habe befreien wollen und den Schnitt nur mit geringer Kraft ausgeführt habe. Das Landgericht hat das Tatgeschehen zum Nachteil des Geschädigten H. als gefährliche Körperverletzung gewertet. An einer Verurteilung der Angeklagten wegen des gegen die Zeugin R. gerichteten Tatgeschehens hat sich das Landgericht gehindert gesehen, weil dieses nach seiner Auffassung nicht angeklagt gewesen sei.
2. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, dass das Landgericht das festgestellte Tatgeschehen nicht erschöpfend gewürdigt habe. Insbesondere sei rechtsfehlerhaft nicht geprüft worden, ob sich die Angeklagte - neben der Tat zum Nachteil des Geschädigten H. - auch wegen versuchten Mordes betreffend R. strafbar gemacht habe.
Die Revision ist begründet. Die Staatsanwaltschaft rügt zu Recht, dass das Landgericht das von ihm festgestellte Tatgeschehen in Bezug auf R. nicht in seine Urteilsfindung mit einbezogen, sondern isoliert nur unter dem Gesichtspunkt einer Tat zum Nachteil des Geschädigten H. gewürdigt hat.
1. Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt in Bezug auf das Tatgeschehen betreffend R. eine wirksame Anklage vor. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.
a) Die Anklageschrift hat gemäß § 200 Abs. 1 StPO die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Die begangene konkrete Tat muss vielmehr durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet werden, dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion nicht, so ist sie unwirksam (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05 und vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 mwN). Bei der Überprüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung und Auslegung herangezogen werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2008 - 1 StR 596/07 und KK-Schneider, 6. Aufl., § 200 Rn. 30 jew. mwN).
b) An diesen Maßstäben gemessen wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 11. August 2010 ihrer Umgrenzungsfunktion auch in Bezug auf das Tatgeschehen betreffend R. hinreichend gerecht. Zwar wird der Angeklagten im abstrakten Anklagesatz lediglich ein Fall des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (zum Nachteil des H.) zur Last gelegt. Im konkreten Anklagesatz teilt die Staatsanwaltschaft jedoch nicht nur den Angriff auf den Geschädigten mit, sondern auch, dass die mit dem Messer bewaffnete Angeklagte am Tattag auf dem Weg zu dessen Lebensgefährtin gewesen sei. Dies wird im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen weiter dahingehend konkretisiert, dass die Angeklagte im Ermittlungsverfahren zugegeben habe, dass sie nicht auf H., sondern auf R. habe "losgehen wollen". Die Staatsanwaltschaft geht im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zudem davon aus, dass die Angeklagte die Absicht gehabt habe, ihre ehemalige Freundin aus Hass zu töten.
Gestützt wird diese Annahme auf eine umfassende Beweiswürdigung zur Tatvorgeschichte, insbesondere auf die Bemühungen der Angeklagten, sich eine Schusswaffe zu besorgen, um "die (gemeint ist R.) abzuknallen", sowie auf den Telefonanruf der Angeklagten bei ihrer ehemaligen Freundin mit den Worten "Du bist tot". Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist damit in der Anklage nicht nur die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt, sondern auch erkennbar, welche Tat gemeint ist und über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Aus den Schilderungen zur Motivation der Angeklagten wird deutlich, dass zu dem von der Anklage umrissenen Tatgeschehen nicht nur der Angriff der Angeklagten auf den Geschädigten gehört, sondern auch das Fehlverhalten der Angeklagten in Bezug auf R., da diese am Tattag das eigentliche Ziel der Angeklagten gewesen ist und es letztlich nur deshalb nicht zu einem gegen diese gerichteten Angriff gekommen ist, weil zufällig der Geschädigte der Angeklagten die Tür geöffnet und sich ihr anschließend in den Weg gestellt hat. Die einzelnen Handlungen gehen hier nicht nur äußerlich ineinander über, sondern sind auch innerlich unmittelbar miteinander verknüpft. Der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung kann nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden. Ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren würde - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist - einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211 mwN).
2. Das Landgericht hat die angeklagte Tat, so wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt (§ 264 Abs. 1 StPO), nicht erschöpfend abgeurteilt.
a) Die Feststellungen des Landgerichts legen es nahe, dass sich die Angeklagte nicht nur wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten H., sondern auch wegen eines versuchten Mordes in Bezug auf R. strafbar gemacht hat. Die Tatvorgeschichte und die Motivation der Angeklagten deuten auf das Vorliegen eines entsprechenden Tatentschlusses hin. Die Angeklagte dürfte zudem unmittelbar zur Tat angesetzt haben, als sie an der Wohnungstür geklingelt hat. Nach dem vom Landgericht festgestellten Tatplan wollte die Angeklagte "für den geplanten Messereinsatz das Überraschungsmoment ausnutzen", da sie davon ausging, dass ihr R. und nicht deren Lebensgefährte nach dem Klingeln die Tür öffnen werde.
b) An der Aburteilung dieses Verhaltens war das Landgericht nicht dadurch gehindert, dass die im Eröffnungsbeschluss zugelassene Anklage nur den Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten H. erhob.
Nach § 264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aburteilen. Es ist verpflichtet, den Unrechtsgehalt der "Tat" voll auszuschöpfen, sofern - wie hier - keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen (BGH, Beschluss vom 9. November 1972 - 4 StR 457/71, BGHSt 25, 72). Der Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO entspricht dabei demjenigen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO (BGH, Beschluss vom 30. März 2011 - 4 StR 42/11).
Danach gehörte hier zur Tat nicht nur der Angriff auf den Geschädigten H., in dessen Verlauf es zu dem Messerschnitt in den Unterarm kam, sondern das gesamte strafrechtlich relevante Verhalten der Angeklagten am Tattag, das auch die geplante Tötung von R. mit umfasste, zu der sie mit dem Klingeln an der Wohnungstür bereits unmittelbar angesetzt haben dürfte.
Diese Tathandlungen - sowohl H. als auch R. betreffend - stellen aufgrund ihres engen zeitlichen, örtlichen und sachlichen Zusammenhanges einen einheitlichen Vorgang dar, unabhängig davon, ob sie sachlichrechtlich als eine Tat oder mehrere Taten angesehen werden (KK-Engelhardt, 6. Aufl., § 264 Rn. 3 mwN). Diesen Vorgang hatte das Landgericht - ggf. unter Erfüllung seiner Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 - 3 StR 222/02, BGHSt 48, 221, 223) - bei seiner Urteilsfindung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen.
Dieser Pflicht ist das Landgericht vorliegend jedoch rechtsfehlerhaft nicht nachgekommen. Dies stellt nicht nur eine Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 264 StPO dar, sondern auch einen sachlich-rechtlichen Mangel, auf dem das Urteil beruht (vgl. BGH, Urteile vom 10. Dezember 1974 - 5 StR 578/74 und vom 16. Dezember 1982 - 4 StR 644/82, NStZ 1983, 174 mwN).
3. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils in vollem Umfang, da sich die - an sich rechtsfehlerfreien - Feststellungen hinsichtlich der Tathandlung zum Nachteil des Geschädigten H. nicht von den Feststellungen zum übrigen Tatgeschehen trennen lassen. Der neue Tatrichter wird unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2010 - 3 StR 105/10 mwN) nähere Feststellungen zum Vorstellungsbild der Angeklagten zu treffen haben, um danach die Frage beurteilen zu können, ob die Angeklagte zur Tötung von R. unmittelbar angesetzt hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1037
Externe Fundstellen: NStZ 2012, 85
Bearbeiter: Karsten Gaede