HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 325
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 222/05, Urteil v. 19.01.2006, HRRS 2006 Nr. 325
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 20. Dezember 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Verfahrensrüge ist, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, jedenfalls unbegründet, so dass es auf die Frage ihrer Zulässigkeit nicht ankommt. Das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.
1. Der Verurteilte war vom Landgericht Magdeburg mit Urteil vom 26. November 1992 wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Nach den Urteilsfeststellungen verfolgte er am 19. Januar 1992 eine ihm flüchtig bekannte junge Frau in den Hausflur ihres Elternhauses, stach in Tötungsabsicht mit einem Springmesser auf sie ein und würgte sie, weil er sich in seiner Hoffnung auf ein sexuelles Abenteuer, zu der ihm sein späteres Opfer allerdings keine Veranlassung gegeben hatte, getäuscht sah; erst als die Eltern zu Hilfe eilten, ließ er von seinem Opfer ab, das durch die Tat schwere körperliche und seelische Beeinträchtigungen davontrug. Zur Tatzeit lag eine alkoholbedingte Enthemmung (1,4 ‰ BAK) beim Verurteilten vor.
Erst knapp zwei Monate vor Begehung dieser Tat war der Verurteilte nach längerer Strafverbüßung unter Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung haftentlassen worden. Er war am 11. August 1984 vom Bezirksgericht Halle wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden, die auf der Grundlage des Einigungsvertrags in eine Jugendstrafe von zehn Jahren umgewandelt worden war. Gegenstand dieser Verurteilung war ein Tatgeschehen vom Januar 1984, in dessen Verlauf der Verurteilte in alkoholisiertem Zustand nachts mit einem Zimmermannshammer gewaltsam in die Wohnung der Schwägerin seiner damaligen Verlobten eindrang, um mit ihr den Geschlechtsverkehr auszuführen, obwohl diese ein solches Ansinnen früher abgelehnt hatte; als die Frau erwachte und eine Anzeige ankündigte, erschlug er sie mit zahlreichen wuchtigen Hammerschlägen. Bei Entdeckung der Tat zwei Tage später hockte der zweijährige Sohn der Getöteten, der im selben Zimmer geschlafen hatte, blutverschmiert und unterkühlt neben dem Leichnam der Mutter.
Der Verurteilte hat sowohl die wegen der Anlasstat verhängte Strafe als auch die Reststrafe aus der Verurteilung durch das Bezirksgericht Halle bis zum 23. März 2002 (UA 11) vollständig verbüßt, nachdem Reststrafaussetzungen mehrmals abgelehnt worden waren. Auch danach verblieb er in der Justizvollzugsanstalt Naumburg, zunächst auf Grund von Unterbringungsanordnungen nach den Vorschriften des Gesetzes über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (UBG) des Landes Sachsen-Anhalt vom 6. März 2002, sodann auf Grund des gemäß § 275 a Abs. 5 StPO ergangenen Unterbringungsbefehls des Landgerichts Magdeburg vom 28. Juli 2004.
2. Zu den persönlichen Verhältnissen hat das Landgericht Folgendes festgestellt:
Der Verurteilte ist als Einzelkind in geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Seine Eltern verwöhnten ihn nach Kräften und bestärkten ihn darin, seine Interessen grundsätzlich als berechtigt anzusehen und durchzusetzen. Mit 17 Jahren zog er gegen den Willen seiner Eltern mit seiner Verlobten zusammen und wohnte in deren Elternhaus. Zu dieser Zeit nahm er häufig übermäßig Alkohol zu sich, obwohl er wusste, dass er unter Alkoholeinfluss aggressiv wurde. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit seiner Verlobten. Im November 1983 brach er nach einem solchen Streit nachts mit einem Schraubendreher in die Wohnräume der von ihm dann im Januar 1984 Getöteten ein, um mit dieser den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Die Frau verwies ihn der Wohnung.
Nach der Haftentlassung im November 1991 fand der Verurteilte Aufnahme bei seinen Eltern und knüpfte Kontakte zu seinen früheren Bekannten, wobei er allerdings wiederum vermehrt dem Alkohol zusprach. Zur Zeit unterhält der Verurteilte intensive und auch intime Beziehungen zu einer transsexuellen Person, die wegen eines Kapitaldelikts bis zum Jahre 2011 Strafhaft zu verbüßen hat. Dieses Verhältnis sieht er als Lebensgemeinschaft an.
3. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht. Als "neue Tatsache" im Sinne dieser Bestimmung hat es eine während des Strafvollzuges wegen der Anlasstat zutage getretene Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, histrionischen und dissozialen Anteilen des Verurteilten gewertet, die ihren Ausdruck in wiederholten verbal-aggressiven Angriffen und Drohungen gegen Bedienstete der Vollzugsanstalt gefunden habe; dies lasse den Schluss zu, dass dem Verurteilten ein Umgang mit Provokations- und Abweisungssituationen, wie sie sich schon bei alltäglichen Konflikten ergeben können, in sozial adäquater Weise nicht möglich sei. Im Rahmen seiner Gesamtwürdigung ist es, beraten durch die psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. S., vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung hervorgetretenen Gefährlichkeit des Verurteilten zu der Einschätzung gelangt, dass dieser in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen würde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.
Das Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat die formellen Eingangsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil vom 26. November 1992 wegen eines Verbrechens gegen das Leben zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die die erforderliche Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt.
2. Entgegen der Ansicht der Revision bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 66 b Abs. 2 StGB weder im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133, 167) noch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m Art. 20 Abs. 3 GG durchgreifende Bedenken (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt; Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
Die Anwendbarkeit des § 66 b Abs. 2 StGB wird auch nicht dadurch gehindert, dass gegen den Verurteilten zum Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat die Maßregel der Sicherungsverwahrung - selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB - nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil dieser die Tat im Beitrittsgebiet, wo er auch ansässig war, begangen hatte (Art. 1 a EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 - BGBl. II S. 889, 954), da diese Vorschrift gerade unabhängig vom Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB Anwendung findet (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet jedoch, dass das Landgericht als "neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB (nur) die schwerwiegende Persönlichkeitsstörung des Verurteilten angesehen hat. Damit hat es auf die Bewertung der Persönlichkeitsauffälligkeiten des Verurteilten abgestellt, nicht auf die dieser Bewertung zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen.
Für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, ist aber nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat bereits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
Zwar hat das Landgericht dargelegt, dass während des Strafvollzugs wegen der Anlasstat bei dem Verurteilten Verhaltensweisen und Auffälligkeiten zutage getreten sind, auf welche sich die Diagnose einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung stützt, und dass diese eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Während der früheren Verbüßungszeit war das Vollzugsverhalten des Verurteilten im wesentlichen angepasst; wenn es Beanstandungen gab, reagierte er positiv auf Aussprachen mit Vollzugsbediensteten; außerdem brachte er in deliktsbezogenen Gesprächen zum Ausdruck, dass er sich der Schwere und Verwerflichkeit seiner begangenen Straftat bewusst sei.
Dies änderte sich bald nach der Anlassverurteilung. Zwar zeigte er sich anfangs noch kooperativ und einsichtig, dann aber traten massive Verhaltensauffälligkeiten auf. Er war leicht reizbar, zeigte eine geringe Frustrationstoleranz und ließ seiner Impulsivität freien Lauf. Wiederholt kam es zu verbal-aggressiven Angriffen auf Vollzugsbedienstete, die er nicht nur beleidigte, sondern auch massiv - teils mit dem Tode - bedrohte. Dreimal wurde er wegen derartiger Attacken zu Geldstrafen verurteilt. Dennoch war der Verurteilte nicht bereit, sein Verhalten zu ändern. Schließlich wurde der Justizvollzug so organisiert, dass nach Möglichkeit nur bestimmte Bedienstete, die mit dem Verurteilten umzugehen wussten, eingesetzt wurden. Selbst dadurch war allerdings keine nachhaltige Besserung der Verhaltensauffälligkeiten zu erzielen. Das Landgericht hat in diesen massiven Verhaltensauffälligkeiten aber ausdrücklich keine neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b StGB gesehen, sondern ausschließlich erwogen, ob die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten erheblich und ob sie dem Ursprungsgericht bekannt oder für dieses erkennbar war. Der Senat kann nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass das Urteil auch im Ergebnis auf diesem unzutreffenden Prüfungsmaßstab beruht. Dies gilt umso mehr, als das Landgericht die vom Verurteilten gezeigten Verhaltensauffälligkeiten - von seinem Ansatz her nachvollziehbar - weitgehend in pauschaler, zusammenfassender Form beschreibt.
Um dem Revisionsgericht eine rechtliche Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Gewichtung zu ermöglichen, bedarf es jedoch einer ins einzelne gehenden Darstellung des vom Tatrichter als neue erhebliche Tatsachen gewerteten Vollzugsverhaltens.
4. Die Frage, ob neben der in § 66 b Abs. 2 StGB erforderlichen Gefährlichkeit zusätzlich ein Hang des Verurteilten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB festgestellt werden muss (was wegen der unterschiedlichen Fassung der Absätze 1 und 2 des § 66 b StGB zweifelhaft erscheinen könnte), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Im Übrigen liegt hier nach den bisherigen getroffenen Feststellungen des Landgerichts ein Hang des Verurteilten zur Begehung erheblicher Straftaten jedenfalls nahe.
5. Für die erneute Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Verbal-aggressive Angriffe während des Vollzugs der Freiheitsstrafe (vgl. Art. 1 a Satz 2 EGStGB n.F.) stellen wegen des mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheitsrecht des Verurteilten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur dann erhebliche neue Tatsachen dar, wenn sie für sich genommen oder in ihrer Gesamtheit auf eine Bereitschaft des Verurteilten hinweisen, schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer zu begehen (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05; Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05). Ob dies hier zutrifft, wird der neue Tatrichter vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung wegen eines wiederholten schwerwiegenden Aggressionsdelikts (zum symptomatischen Zusammenhang zwischen Anlasstat und neuer Tatsache vgl. Senatsbeschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt = NJW 2006, 384 f.), der Persönlichkeit des Verurteilten (einschließlich diagnostizierter Persönlichkeitsstörungen) sowie der besonderen Vollzugssituation zu beurteilen haben.
b) Bei der Gefährlichkeitsprognose wird der neu entscheidende Tatrichter auch zu prüfen haben, ob und inwieweit die beim Verurteilten bestehende schwerwiegende Persönlichkeitsstörung, die ursächlich für die aggressiven Verhaltensweisen im Vollzug ist, bisher therapeutisch aufgearbeitet werden konnte.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 325
Externe Fundstellen: NJW 2006, 1446; NStZ-RR 2006, 170; StV 2006, 414
Bearbeiter: Karsten Gaede