HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 523
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 377/03, Urteil v. 04.03.2004, HRRS 2004 Nr. 523
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 3. April 2003 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zur Vorgeschichte und zum äußeren Tatgeschehen und zur Schuldfähigkeit des Angeklagten aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt sowie Maßregeln nach §§ 69, 69 a StGB angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachbeschwerde teilweise Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Urteilsfeststellungen verlief die im Jahre 1981 zwischen dem Angeklagten und dem späteren Tatopfer geschlossene Ehe zunehmend problematisch, weil der Angeklagte größere Geldbeträge verspielte und seine Ehefrau gelegentlich schlug. Anfang 2002 verstärkten sich die Spannungen, weil die Ehefrau nicht bereit war, erneute Spielschulden des Angeklagten, gegebenenfalls durch den Verkauf einer ihr gehörenden Wohnung in der Türkei, zu begleichen. Für den 21. Februar 2002 hatte sie einen Termin bei einem Rechtsanwalt vereinbart, bei dem über eine Scheidung gesprochen werden sollte.
Der Angeklagte war verärgert, daß seine Ehefrau ernsthaft die Trennung betrieb. In der Nacht vom 19. Februar zum 20. Februar 2002 schlug er seiner Ehefrau an der gemeinsamen Arbeitsstätte während eines Streits mehrfach ins Gesicht, so daß ihre Lippe blutete. Während der folgenden Nachtschicht beschimpfte er sie erneut lautstark; außerdem trank er drei bis vier Flaschen Bier. Als er nach dem Ende der Arbeitsschicht um 6.00 Uhr mit dem gemeinsamen Kraftfahrzeug, einem Mercedes 190 E, auf dem Betriebsgelände in Richtung Ausfahrt fuhr, sah er seine Ehefrau, die auf dem Weg zum Bus die von ihm benutzte Fahrbahn in diagonaler Richtung überqueren wollte und ihn dabei nicht wahrnahm. Spontan entschloß sich der leicht alkoholisierte Angeklagte - seine Blutalkoholkonzentration betrug um 7.10 Uhr 1,05 ‰ - seine Ehefrau für ihr Verhalten zu bestrafen und sie mit dem Auto anzufahren. Er erkannte, daß dies zu tödlichen Verletzungen führen könnte, nahm das jedoch billigend in Kauf, weil er nicht bereit war, die Trennungsabsicht seiner Frau hinzunehmen. Dem Angeklagten war bewußt, daß seine Ehefrau nicht mit einem Angriff rechnete. Er beschleunigte das Fahrzeug stark und fuhr mit aufheulendem Motor von hinten auf seine Ehefrau zu. Mit einer Geschwindigkeit von mindestens 35 km/h traf das Fahrzeug auf das Opfer, das über die Motorhaube auf die Fahrbahn geworfen wurde. Die Frau erlitt unter anderem einen Verrenkungsbruch des linken Oberarms, der die Einsetzung einer Endoprothese des Schultergelenks erforderlich machte, und eine vordere Beckenringfraktur; sie war bis Anfang 2003 arbeitsunfähig. Nach der Kollision hielt der Angeklagte an. Er begab sich zu seiner am Boden liegenden Ehefrau, die bereits von hilfsbereiten Arbeitskollegen umringt war, und sagte zu ihr: "Siehst Du, das hast Du jetzt davon"; anschließend trank er noch etwas Bier. Inzwischen haben sich der in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte und seine Ehefrau, die ihm die Tat verziehen hat, wieder ausgesöhnt.
2. Diese Feststellungen tragen die Verurteilung wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§§ 315 b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1 a, 2 StGB) nicht, denn sie belegen nicht, daß der Angeklagte das Kraftfahrzeug im öffentlichen Verkehrsraum geführt hat.
Das Tatgeschehen ereignete sich auf einer Straße, die auf einem Betriebsgelände gelegen ist. Die Lichtbilder und die Übersichtsskizze, auf die in den Urteilsgründen wegen der näheren Einzelheiten des Tatorts Bezug genommen wird, lassen erkennen, daß es sich um ein weitläufiges Gelände handelt, das über eine Einfahrt zu erreichen ist. Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, befindet sich an dieser Einfahrt ein Tor, welches von einem Pförtner bedient wird. Feststellungen dazu, welchem Personenkreis die Benutzung des Betriebsgeländes gestattet ist, enthält das Urteil nicht. Daher ist nicht belegt, daß der Angeklagte, als er seine Ehefrau mit dem Kraftfahrzeug vorsätzlich anfuhr, einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr vorgenommen hat.
Der Begriff des Straßenverkehrs im Sinne des § 315 b StGB, der dem des StVG, der StVO und der StVZO entspricht (vgl. König in LK-StGB 11. Aufl. § 315 b Rdn. 6), bezieht sich auf Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Verkehrsraum dann öffentlich, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (vgl. BGHSt 16, 7, 9 f.; BGH VRS 12, 414, 415 f.; BGHR StGB § 315 b Abs. 1 Straßenverkehr 1; vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl. § 1 StVO Rdn. 13 bis 16 m.w.N.; Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 315 b Rdn. 3 m.w.N.). Umfaßt werden demnach nicht nur Verkehrsflächen, die nach dem Wegerecht des Bundes und der Länder dem allgemeinen Straßenverkehr gewidmet sind, sondern auch solche, deren Benutzung durch eine nach allgemeinen Merkmalen bestimmte größere Personengruppe ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse am Straßengrund oder auf eine verwaltungsrechtliche Widmung durch den Berechtigten ausdrücklich oder faktisch zugelassen wird.
Dabei nimmt es der Verkehrsfläche nicht den Charakter der Öffentlichkeit, wenn für die Zufahrt mit Fahrzeugen eine Parkerlaubnis oder für die Nutzung ein Entgelt verlangt wird (vgl. König aaO Rdn. 6, 7 m.w.N.). Für die Beurteilung, ob eine auf einem Betriebsgelände gelegene Verkehrsfläche dem öffentlichen Verkehrsraum zuzurechnen ist, kommt den äußeren Gegebenheiten, die einen Rückschluß auf das Vorhandensein und den Umfang der Gestattung bzw. Duldung des allgemeinen Verkehrs durch den Verfügungsberechtigten zulassen, maßgebliche Bedeutung zu. So kann sich etwa aus einer entsprechenden Beschilderung als "Privat-/Werksgelände", einer Einfriedung des Geländes und einer Zugangsbeschränkung in Gestalt einer Einlaßkontrolle ergeben, daß der Verfügungsberechtigte die Allgemeinheit von der Benutzung des Geländes ausschließen will (vgl. Hünnekens/Schulte, Öffentlicher Verkehr auf Betriebsund Werksgelände, BB 1997, 533, 534 f.; 537/538). Wenn aufgrund solcher Maßnahmen nur einem beschränkten Personenkreis wie den Betriebsangehörigen (vgl. OLG Braunschweig VRS 27, 458 - Parkplatz einer Fabrik -), wie mit einem besonderen Ausweis ausgestatteten Personen (vgl. BGH NJW 1963, 152 - städtischer Großmarkt -) oder wie individuell zugelassenen Lieferanten und Abholern (vgl. OLG Köln VersR 2002, 1117 - Produktionsstätte für Baustoffe -), Zutritt zu dem Betriebsgelände gewährt wird, handelt es sich um eine nicht öffentliche Verkehrsfläche. In diesen Fällen ist der Kreis der Berechtigten so eng umschrieben, daß er "deutlich aus einer unbestimmten Vielheit möglicher Benutzer ausgesondert ist" (vgl. BGHSt 16, 7, 11). Ist dagegen ein Betriebsgelände der Allgemeinheit, d.h. einem nicht durch persönliche Beziehungen miteinander verbundenen Personenkreis, zugänglich, sind die darauf befindlichen Verkehrsflächen öffentlicher Verkehrsraum im Sinne des § 315 b StGB.
Da das Landgericht insoweit keine Feststellungen getroffen hat, hält die Verurteilung des Angeklagten wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.
3. Der aufgezeigte Mangel zieht die Aufhebung der Verurteilungen wegen tateinheitlich begangenen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung nach sich (vgl. BGHR StPO § 353 Aufhebung 1). Die Feststellungen zur Vorgeschichte, zum äußeren Tatgeschehen und zur Schuldfähigkeit, die von dem zur Urteilsaufhebung führenden Rechtsfehler nicht betroffen sind, bleiben aufrechterhalten; ergänzende Feststellungen, die dazu nicht im Widerspruch stehen, sind zulässig.
4. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
a) Das vom Landgericht festgestellte Tatmotiv, wonach der Angeklagte seine Ehefrau für ihre ernsthafte Trennungs- und Scheidungsabsicht "abstrafen" wollte, steht - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers - unter den gegebenen Umständen einem bedingten Tötungsvorsatz nicht notwendig entgegen (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 39, 40).
Sollte der neue Tatrichter wiederum zur Annahme eines versuchten Tötungsdelikts kommen, wird er aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Angeklagten maßgeblichen Faktoren (vgl. BGHSt 35, 116, 127; BGH StV 1996, 211, 212) zu prüfen haben, ob das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe gegeben ist. Dabei wird er zu bedenken haben, daß es stets besonders sorgfältiger Prüfung bedarf, wenn sich eine Tat plötzlich aus einer Situation heraus entwickelt (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 11 m.w.N.) und/oder vor dem Hintergrund einer gescheiterten Partnerbeziehung begangen wurde (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 211 Rdn. 11 a m.w.N.). Jedenfalls ist es nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wenn einerseits die Handlungsweise des Angeklagten in Anbetracht der Vorgeschichte als "normalpsychologisch nachvollziehbar" [UA 46] bezeichnet, andererseits das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe angenommen wird.
Dagegen erscheint es eher fernliegend, daß der Angeklagte, der seit 1980 in Deutschland lebt und mittlerweile deutscher Staatsangehöriger ist, eine mögliche besondere Verwerflichkeit seiner Motive deswegen nicht erkannt haben könnte, weil er - wie die Revision meint - archaischen Wertvorstellungen eines Teils der türkischen Gesellschaft über Ehe und Familie verhaftet sei (vgl. auch BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 29, 41; BGH, Beschluß vom 24. April 2001 - 1 StR 122/01 - und Urteil vom 28. Januar 2004 - 2 StR 452/03).
b) Die Annahme, der Angeklagte habe die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB) begangen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Hinterlist setzt voraus, daß der Täter planmäßig in einer auf Verdeckung seiner wahren Absicht berechneten Weise vorgeht, um dadurch dem Gegner die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu erschweren und die Vorbereitung auf die Verteidigung nach Möglichkeit auszuschließen (vgl. BGHR StGB § 223 a Abs. 1 Hinterlist 1 m.w.N.; BGH, Beschluß vom 15. Juli 2003 - 1 StR 249/03); es reicht nicht aus, wenn der Täter für den Angriff lediglich das Überraschungsmoment ausnutzt.
c) Für den Fall, daß aufgrund weiterer Feststellungen eine Verurteilung wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Betracht kommt, wird der neue Tatrichter zu beachten haben, daß § 315 b Abs. 3 StGB lediglich hinsichtlich der Qualifikationsmerkmale, nicht jedoch bezüglich des Strafrahmens auf § 315 Abs. 3 StGB verweist.
HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 523
Externe Fundstellen: BGHSt 49, 128; NJW 2004, 1965; StV 2004, 488
Bearbeiter: Karsten Gaede