HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 643
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 116/11, Beschluss v. 05.05.2011, HRRS 2011 Nr. 643
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 1. Oktober 2010 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 16 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die auf die - zunächst allgemeine - Sachrüge gegründete Revision des Angeklagten ist unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils auch unter Berücksichtigung der Gegenerklärung des Angeklagten vom 23. März 2011 auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 28. Februar 2011 keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Grundlage der Verurteilung sind nicht zur Umsatzsteuer erklärte, durch Scheinrechnungen abgedeckte Schwarzein- und -verkäufe von Telefonkarten in der Zeit von Juli 2007 bis Oktober 2008. Dazu hatte der Angeklagte zwei Unternehmen gegründet, die er - weil er selbst über keine Arbeitserlaubnis verfügte - mit Hilfe von Strohleuten führte. Insgesamt hinterzog er Umsatzsteuern in Höhe von insgesamt 2.287.737 €. Bei den 16 Taten reichen die jeweiligen Hinterziehungsbeträge von 19.918 € bis zu 203.952 €. Bei 13 Taten liegt der Hinterziehungsbetrag über 100.000 €, acht dieser Taten wurden nach dem 1. Januar 2008 begangen. Auch in diesen Fällen hat die Strafkammer der Strafzumessung den Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO zugrunde gelegt und Einzelstrafen von acht Monaten bis zu einem Jahr und vier Monaten verhängt.
Die Strafkammer hat nicht erörtert, ob der Angeklagte aus grobem Eigennutz handelte (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung) und - insbesondere - ob er bei den Taten nach dem 31. Dezember 2007 (gemäß der von da an geltenden Fassung des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO) - Steuern in großem Ausmaß verkürzte.
Die Strafzumessung ist, soweit es die nach dem 31. Dezember 2007 begangenen Taten betrifft, in mehrfacher Hinsicht - zugunsten des Angeklagten - rechtsfehlerhaft. Es liegt ein Begründungsmangel vor, weil die Strafkammer nicht geprüft hat, ob bei Hinterziehungsbeträgen ab 100.000 € das gesetzliche Merkmal "in großem Ausmaß" (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO) gegeben war. Aber selbst dann, wenn die Strafkammer richtigerweise das Regelbeispiel in diesen Fällen bejaht hätte, wäre die Nichtannahme eines besonders schweren Falles hier ein Wertungsfehler. Dadurch ist der Angeklagte jedoch nicht beschwert.
1. Die Strafzumessung genügt nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 267 Abs. 3 Satz 3 StPO. Nach dieser Bestimmung müssen die Urteilsgründe "auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt". Zwei Prüfungsschritte sind danach erforderlich:
a) Besteht Anlass, dass die im Straftatbestand aufgeführten Merkmale eines Regelbeispiels erfüllt sind, dann müssen die Urteilsgründe zunächst erkennen lassen, dass die rechtlichen Voraussetzungen des entsprechenden Merkmals geprüft wurden. Dieser erste Prüfungsschritt betrifft die Subsumtion unter ein gesetzliches Merkmal, die der vollen rechtlichen Prüfung durch das Revisionsgericht unterliegt.
b) Wird trotz Bejahung des Merkmals gleichwohl von der Regelwirkung abgesehen, so ist die Wahl des (milderen) Strafrahmens nachvollziehbar darzulegen. Dieser zweite Prüfungsschritt ist Teil der zuvorderst dem Tatrichter obliegenden Strafrahmenwahl, die nur eingeschränkt der revisionsgerichtlichen Prüfung zugänglich ist. Insoweit gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: Zwar kann die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels durch andere Strafzumessungsfaktoren kompensiert werden, doch müssen diese dann so schwer wiegen, dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint.
Ob dies so ist, kann der Strafrichter erst nach umfassender Abwägung aller Umstände entscheiden. Dabei dürfen jedenfalls die Umstände, welche das Regelbeispiel begründen, nicht unberücksichtigt bleiben; diese müssen vielmehr zunächst im Vordergrund der Abwägung stehen (BGH, Urteil vom 12. November 1996 - 1 StR 470/96; siehe auch Urteile vom 17. September 1997 - 2 StR 390/97; 9. August 2000 - 3 StR 133/00; 11. September 2003 - 4 StR 193/03, NStZ 2004, 265; 31. März 2004 - 2 StR 482/03, NJW 2004, 2394, 2395).
c) Die Wahl des erhöhten Strafrahmens bedarf hingegen - grundsätzlich - keiner weiteren Begründung, wenn das gesetzliche Merkmal des Regelbeispiels eines besonders schweren Falles erfüllt ist. Denn dann besteht eine gesetzliche Vermutung für einen gegenüber dem Normaltatbestand erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl., Rn. 603 mwN).
2. Das bedeutet für das gesetzliche Merkmal "in großem Ausmaß" des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO:
a) Der Senat hat mit Urteil vom 2. Dezember 2008 (1 StR 416/08, BGHSt 53, 71) das Merkmal "großes Ausmaß" ausgelegt und dafür folgende Betragsgrenzen bestimmt: Beschränkt sich das Verhalten des Täters darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, dann ist das Merkmal bei einer Verkürzung in Höhe von 100.000 € erfüllt (Rn. 39, 41). Wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, liegt die Betragsgrenze bei 50.000 € (Rn. 37).
b) Diese Bestimmung der Betragsgrenzen durch den Senat hat der Gesetzgeber in den Beratungen zu dem Entwurf des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes (BT-Drucks. 17/4182 und 17/4802) aufgegriffen. In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 17/5067 neu) ist zur Bestimmung der Betragsgrenze, ab welchem bei einer Selbstanzeige Straffreiheit nicht eintritt, unter Bezugnahme 11 12 13 14 auf das Senatsurteil BGHSt 53, 71 ausgeführt (S. 21): "Die Betragshöhe orientiert sich an der Rechtsprechung des BGH zu dem Regelbeispiel des § 370 Absatz 3 Nummer 1 AO, wo das Merkmal großen Ausmaßes bei 50 000 Euro als erfüllt angesehen wird". Damit hat der Gesetzgeber ersichtlich die Auslegung des Regelbeispiels durch den Senat gebilligt.
c) Jedenfalls in den Fällen, bei denen durch die nach dem 31. Dezember 2007 begangenen Taten Steuern in Höhe von 100.000 € und darüber verkürzt wurden, hätte die Strafkammer deshalb die Voraussetzungen des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 als erfüllt ansehen müssen. Zudem hätten die Feststellungen zum Zusammenwirken innerhalb der Tätergruppe Anlass geben können, auch das Regelbeispiel Nr. 5 des § 370 Abs. 3 Satz 2 AO (Handeln als Mitglied einer Bande zur fortgesetzten Begehung von Steuerhinterziehungen) zu prüfen.
3. Indem die Strafkammer das Regelbeispiel nicht geprüft hat, hat es sich den Blick dafür verstellt, bei der Wahl des Strafrahmens zu erörtern, ob die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels durch andere - für den Angeklagten sprechende - Strafzumessungsfaktoren kompensiert wurde. Milderungsgründe, die so schwer wiegen könnten, dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint, sind hier nicht in ausreichendem Maße dargetan.
a) Nach der Bewertung der Strafkammer "werden die Steuerschäden durch die Tatsache relativiert, dass ein Großteil durch die Angeklagten sowie die Firma L. wieder gut gemacht worden" ist. Die vom Angeklagten "hinterzogenen Umsatzsteuern wurden mittlerweile vollständig beglichen". Es bleibt allerdings offen, woher die Geldmittel hierzu stammen. Nach den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten und zu seinem Gewinn (mitgeteilt wird von der Strafkammer ein Rohertrag von 2 %; die Summe der für den Tatzeitraum aufgeführten Einkäufe liegt allerdings über den Erlösen während dieser Zeit) aus dem inkriminierten Handel mit Telefonkarten erscheint es ohne nähere Darlegungen kaum nachvollziehbar, dass er selbst zur Schadenswiedergutmachung in der Lage war. Im Übrigen ändert die Bezahlung der geschuldeten hinterzogenen Steuern nichts an der Indizwirkung der Überschreitung der 100.000 €-Grenze für besonders schwere Fälle. Denn hierbei ist schon berücksichtigt, dass es lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs kommt (Senat aaO Rn. 39).
b) Hier kommt indes erschwerend hinzu (vgl. Senat aaO Rn. 47), dass der Angeklagte besondere unternehmerische Strukturen aufgebaut hat, um seinen durchgehend steuerunehrlichen Handel zu betreiben, eingebunden in das "Tarnsystem" eines grenzüberschreitenden, steuerunehrlichen Unternehmensgeflechts.
c) Dass die Nichtannahme des besonders schweren Falles selbst bei Bejahung des Merkmals "großes Ausmaß" ein Wertungsfehler wäre, zeigt sich auch daran, dass ohne nähere Differenzierung zwischen den Tatbeteiligten neben dem Angeklagten fünf weitere Personen - rechtskräftig - ebenfalls nur aus dem Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden.
Zwei dieser Verurteilten hinterzogen - gemeinsam - sogar 4.797.032 € an Umsatzsteuern. Sie wurden jeweils zu zwei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
4. Offen bleiben kann, ob - was freilich nahe liegt - ein weiterer Wertungsfehler darin liegt, dass sich sowohl die Einzelstrafen, wie auch die Gesamtstrafe erheblich nach unten von ihrer Bestimmung lösen, gerechter Schuldausgleich zu sein.
Zur Bedeutung des Hinterziehungsbetrags für die Strafhöhenbemessung ist in der oben genannten Beschlussempfehlung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 17/5067 neu, S. 21) ausgeführt: "Bei den Beratungen der geplanten Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerhinterziehung waren sich alle Fraktionen in der Bewertung einig, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt sei und entsprechend bekämpft werden müsse. Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP haben dabei betont ... Eine Aussetzung der Freiheitsstrafe auf Bewährung bei Hinterziehung in Millionenhöhe sei nach einer Entscheidung des BGH nicht mehr möglich".
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Bei der Staatsanwaltschaft - auch im Rahmen der Dienstaufsicht - hätte deshalb Anlass bestehen können zu prüfen, ob Handlungsbedarf gemäß Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV besteht. Eine etwaige Verständigung gemäß § 257c StPO hätte dem nicht entgegengestanden. Denn auch dann darf das Ergebnis nicht unterhalb "der Grenze dessen liegen, was noch als schuldangemessene Sanktion hingenommen werden kann" (BGH, Beschluss vom 3. März 2005 - GSSt 1/04, BGHSt 50, 41, 50).
2. Erörtert das Gericht vor Beginn der Hauptverhandlung mit den Beteiligten den Stand des Verfahrens, so ist der wesentliche Inhalt dieser Erörterung aktenkundig zu machen (§§ 202a, 212 StPO). Über diese Gespräche hat der Vorsitzende zu Beginn der Hauptverhandlung auch zu berichten (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) und dies ins Protokoll aufzunehmen (§ 273 Abs. 1a Satz 2 StPO).
In den Urteilsgründen ist mitzuteilen, wenn der Verurteilung eine Verständigung gemäß § 257c StPO zugrunde lag (§ 267 Abs. 3 Satz 5 StPO). Im Protokoll ist aber auch zu vermerken, wenn dem Urteil keine Verständigung vorausging (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO). Der Staatsanwalt ist gegebenenfalls gehalten, durch entsprechende Anregungen an das Gericht auf die Vermeidung von Protokollierungsfehlern oder -lücken hinzuwirken (vgl. Nr. 127 Abs. 1 Satz 1 RiStBV).
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 643
Externe Fundstellen: NJW 2011, 2450; NJW 2011, 8; NStZ 2011, 643; NStZ 2012, 162; StV 2012, 219
Bearbeiter: Karsten Gaede