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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 282

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1464/11, Beschluss v. 05.03.2012, HRRS 2012 Nr. 282


BVerfG 2 BvR 1464/11 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. März 2012 (OLG Dresden / LG Dresden)

Rechtsstaatsprinzip; Recht auf faires Verfahren; Verfahrensabsprache; Rechtsmittelverzicht; Sachaufklärungspflicht; Freibeweisverfahren; Hauptverhandlungsprotokoll; Dokumentationspflicht.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 257c StPO; § 273 StPO; § 302 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Aus dem Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Recht auf ein faires Verfahren ergeben sich Mindestanforderungen für eine zuverlässige Sachverhaltsaufklärung. Dies gilt auch bei der obergerichtlichen Überprüfung der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. Dabei ist es grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn im Freibeweisverfahren nicht zu beseitigende Zweifel in Bezug auf Verfahrenstatsachen grundsätzlich zulasten des Angeklagten gewertet werden.

2. Rechtsstaatlich nicht hinnehmbar ist es allerdings, wenn die Zweifel darauf zurückzuführen sind, dass das Tatgericht gegen eine gesetzliche Dokumentationspflicht verstoßen und entgegen § 273 Abs. 1a StPO weder das Zustandekommen einer Verfahrensabsprache noch deren Unterbleiben protokolliert hat.

3. Zweifel, die sich nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken dürfen, bestehen etwa dann, wenn dessen Vortrag, einen Rechtsmittelverzicht nur aus Furcht vor einer Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls erklärt zu haben, nicht tragfähig zu beurteilen ist, weil jegliche Protokollierung zur Frage einer Absprache fehlt, die dienstliche Äußerung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft zur Haftfrage widersprüchlich ist und Stellungnahmen der Schöffen und der Urkundsbeamtin nicht eingeholt worden sind.

4. Ausdrücklich offen lässt die Kammer die hier nicht entscheidungserhebliche grundsätzliche Frage, ob Verfahrensabsprachen und die entsprechenden Regelungen der Strafprozessordnung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 - 3 Ws 33/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Dresden zurückverwiesen.

2. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 6. Juni 2011 - 3 Ws 33/11 - gegenstandslos und erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000,00 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Art und Weise der Prüfung des Zustandekommens einer Verfahrensabsprache in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung durch das Rechtsmittelgericht, wenn der Angeklagte unter Berufung auf eine solche Absprache die Unwirksamkeit eines von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts geltend macht.

1. Das Amtsgericht Pirna - Schöffengericht - verurteilte den Beschwerdeführer, der sich zur Zeit der Hauptverhandlung seit etwa fünf Monaten in Untersuchungshaft befand, wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit gewerbsmäßiger Hehlerei in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten.

a) Dem Protokoll zufolge wurde die Hauptverhandlung auf Anregung der damaligen Verteidigerin des Beschwerdeführers kurz nach ihrem Beginn für ein "Rechtsgespräch" unterbrochen. Als die Hauptverhandlung - etwa eine Stunde später - fortgesetzt wurde, verlas die Verteidigerin eine ein Geständnis enthaltende Erklärung für den Beschwerdeführer, der danach Fragen beantwortete. Im Anschluss verzichteten die Verfahrensbeteiligten auf eine Vernehmung der geladenen Zeugen und es wurde gemäß § 154 Abs. 2 StPO von der Verfolgung eines mitangeklagten Vorwurfs abgesehen. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft beantragte eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten sowie die Aufhebung des Haftbefehls; die Verteidigung beantragte eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung und die Aufhebung des Haftbefehls. Nach der Urteilsverkündung und der Aufhebung des Haftbefehls verzichteten Staatsanwaltschaft und Beschwerdeführer auf Rechtsmittel.

b) Das Hauptverhandlungsprotokoll enthält weder einen Hinweis auf das Zustandekommen einer Absprache (§ 273 Abs. 1a Satz 1 StPO) noch die Angabe, dass eine Verständigung nicht erfolgt sei (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO). Auch die Entscheidungsgründe äußern sich nicht dazu, ob dem Urteil eine Absprache vorausging.

2. a) Der Beschwerdeführer legte Berufung ein und machte eine Unwirksamkeit seines Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO geltend. Hierfür legte er eine Erklärung seiner damaligen Verteidigerin vor, die Verständigungsgespräche vor dem Amtsgericht Pirna schilderte und das Zustandekommen einer Absprache bejahte.

b) Das Landgericht Dresden verwarf die Berufung mit Beschluss vom 10. März 2011 als unzulässig, nachdem es dienstliche Stellungnahmen der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und des Vorsitzenden des Schöffengerichts eingeholt hatte.

aa) Die damalige Verteidigerin des Beschwerdeführers hatte in ihrer Erklärung angegeben, das Rechtsgespräch habe zunächst im Richterzimmer zwischen dem Vorsitzenden des Schöffengerichts, der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und ihr stattgefunden. Die Staatsanwältin habe gleich zu Beginn klargestellt, schon wegen der Vorstrafen des Beschwerdeführers sei aus ihrer Sicht nicht mit einer Bewährungsstrafe zu rechnen. Sie selbst habe mit Blick auf die konkreten Vorwürfe eine Bewährungsstrafe noch für realistisch gehalten und den Inhalt eines möglichen Geständnisses angerissen. Der Vorsitzende habe ausgeführt, auch er könne sich eine Bewährungsstrafe nicht mehr vorstellen, dafür aber eine Aufhebung des Haftbefehls, sofern sich der Beschwerdeführer wie angekündigt einlasse. In diesem Fall werde eine Beweisaufnahme durch Zeugeneinvernahme nicht erfolgen. Der Vorsitzende habe darauf hingewiesen, dies aber noch mit den Schöffen besprechen zu müssen. Die Staatsanwältin habe zunächst mehr als drei Jahre Freiheitsstrafe gefordert und sei schließlich von zwei Jahren und zehn Monaten ausgegangen. Der Vorsitzende habe die Strafhöhe ähnlich gesehen, aber noch keinen eindeutigen Hinweis gegeben. Sie habe sich daraufhin mit dem Beschwerdeführer besprechen und die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft die Verfasserin der Anklageschrift unterrichten wollen. Nachdem sie die Angelegenheit mit dem Beschwerdeführer in dem Sinne erörtert gehabt habe, dass dieser sich zur Sache einlasse, wenn der Haftbefehl aufgehoben werde, sei sie zu dem Vorsitzenden gegangen und habe mitgeteilt, mit der besprochenen Vorgehensweise bestehe Einverständnis. Der Vorsitzende habe aber noch nicht mit den Schöffen gesprochen gehabt. Als sie in den Sitzungssaal zurückgekommen sei, habe die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ihr mitgeteilt, man könne so verfahren, dass der Beschwerdeführer zwei Jahre und zehn Monate erhalte, der Haftbefehl aufgehoben und die Sache rechtskräftig werde. Über diese Aussage sei sie überaus erstaunt gewesen, da in den Gesprächen zuvor zu keinem Zeitpunkt eine Rechtskraft des Urteils thematisiert worden sei. Die Staatsanwältin habe jedoch geäußert, sie könne die Verteidigerin nicht verstehen, da ein entsprechendes Gespräch stattgefunden habe und sie davon ausgegangen sei, alle Beteiligten seien sich über diese Punkte einig. Als das Gericht in den Saal gekommen sei, habe sie den Vorsitzenden über die Äußerung der Staatsanwältin informiert und ihn gefragt, ob er das auch so sehe, was der Vorsitzende bestätigt habe. Hierüber habe sie mit dem Beschwerdeführer gesprochen, der sich für die Rechtskraft entschieden habe, weil der Haftbefehl aufgehoben werden sollte. Sodann sei die Hauptverhandlung fortgesetzt worden. Sie und der Beschwerdeführer hätten später auf Rechtsmittel verzichtet, weil sie befürchtet hätten, anderenfalls werde der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Zunächst sei sie davon ausgegangen, im Richterzimmer sei eine Vereinbarung nicht getroffen worden. Der Vorsitzende und die Staatsanwältin hätten sie in der Hauptverhandlung jedoch eindeutig anders belehrt.

bb) Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft hatte in ihrer dienstlichen Erklärung ausgeführt, sie habe klargestellt, dass aus ihrer Sicht eine Bewährungsstrafe nicht in Betracht komme. Der Vorsitzende habe mit Blick auf übliche Strafen bei vergleichbaren Taten Ähnliches geäußert, ohne ein konkretes Strafmaß benannt zu haben, da auch eine Abstimmung mit den Schöffen nicht erfolgt gewesen sei. Auf die Ankündigung des Gerichts, gegebenenfalls den Haftbefehl aufzuheben, habe sie eingewandt, wegen der hohen Fluchtgefahr sei mit einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft zu rechnen. Für den Fall der Rechtskraft sei dies natürlich anders. Sie habe Verteidigung und Beschwerdeführer so verstanden, dass es ihnen vordergründig um die Aufhebung des Haftbefehls gegangen sei, wobei sie mehrfach ihre Position deutlich gemacht habe. Gänzlich nicht nachvollziehen könne sie die Äußerung der Verteidigerin zum Zustandekommen einer Absprache, da das Gericht die Position vertreten gehabt habe, den Haftbefehl aufheben zu wollen und sie eine sofortige Beschwerde dagegen avisiert habe. Die Verteidigerin habe schließlich auch einen anderen Antrag zum Strafmaß als sie gestellt. Sie habe auf eine weitere Beweisaufnahme verzichtet, weil aus ihrer Sicht keine Beweisprobleme vorgelegen hätten und sie sich sicher gewesen sei, dass das Strafmaß den Erwartungen der Staatsanwaltschaft nahekommen werde. Ein regelrechtes Gespräch über ein bestimmtes Strafmaß mit Gericht, Verteidigung und Staatsanwaltschaft, wie sie es sonst kenne, habe es ihres Erachtens nicht gegeben. Ihr sei es um die Fortsetzung der Untersuchungshaft gegangen.

cc) Der Vorsitzende des Schöffengerichts hatte in seiner dienstlichen Stellungnahme mitgeteilt, der genaue Werdegang der Gespräche und deren Inhalt seien ihm nach dem eingetretenen Zeitablauf nicht mehr genau erinnerlich. Er denke aber, dass die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft den Geschehensablauf zutreffend geschildert habe.

dd) Das Landgericht hielt das Zustandekommen einer Absprache für nicht erwiesen und deshalb den Rechtsmittelverzicht für wirksam. Zwar habe die Verteidigerin ausgeführt, es sei Einigkeit erzielt worden, dass der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt sowie der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben wird, wenn das Urteil rechtskräftig werde. Dies stelle jedoch bereits wegen des Einschlusses des Rechtsmittelverzichts keine zulässige Verständigung im Sinne von § 257c StPO dar. Zudem stehe der Antrag der Verteidigerin auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung der Annahme entgegen, es sei eine Verständigung auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten erzielt worden.

3. a) Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss des Landgerichts sofortige Beschwerde ein.

b) Das Oberlandesgericht Dresden verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 19. April 2011 als unbegründet. Die Annahme der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts sei nicht zu beanstanden. Da das Verhandlungsprotokoll weder die Erklärung nach § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO noch das Negativattest nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO enthalte, sei dessen Beweiskraft entfallen. Damit sei aber nicht der Vortrag des Beschwerdeführers als wahr zu unterstellen, sondern dieser habe nur die Möglichkeit, den Nachweis zu führen, dass ein bestimmter Vorgang geschehen oder nicht geschehen sei. Das Rechtsmittelgericht müsse dann im Freibeweisverfahren und in freier Beweiswürdigung den wirklichen Verfahrensablauf klären.

Hiernach sei das Vorliegen einer Verständigung nicht bewiesen. Die Erklärungen der damaligen Verteidigerin und der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft seien angesichts des Inhalts des Hauptverhandlungsprotokolls zum Verfahrensablauf nicht geeignet, diesen Beweis zu erbringen. Der Annahme einer Absprache über das Strafmaß stehe entscheidend entgegen, dass die Verteidigerin eine Strafe von maximal zwei Jahren mit Bewährung beantragt habe, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft aber eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Bereits aus diesem Grund liege es fern, dass sich die Verfahrensbeteiligten auf ein Strafmaß von zwei Jahren und zehn Monaten geeinigt haben sollen. Dass Verteidigung und Staatsanwaltschaft übereinstimmend beantragt hätten, den Haftbefehl aufzuheben, beweise eine Verständigung im Sinne von § 257c StPO ebenfalls nicht. Dieses Prozessverhalten könne auch dem Umstand geschuldet sein, dass der Vorsitzende von Anfang an seine Absicht bekundet gehabt habe, den Haftbefehl aufzuheben. Außerdem wäre bei einem Nichteintritt der Rechtskraft trotz dieses Antrags eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft möglich gewesen. Aus den Stellungnahmen der Prozessbeteiligten ergebe sich auch keine ausreichende Grundlage für eine Verständigung über die Aufhebung des Haftbefehls und einen Rechtsmittelverzicht. Die Annahme einer Absprache bei dem Gespräch im Richterzimmer scheide schon mangels Beteiligung der Schöffen aus. Der nachfolgende Geschehensablauf lasse unter Zugrundelegung der Schilderung der Verteidigerin die Bejahung einer Verständigung ebenfalls nicht zu, da diese mit der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft keinen Konsens erzielt gehabt habe. Zudem habe letztere geäußert, sie habe es nach wie vor als problematisch erachtet, dass der Haftbefehl aufgehoben werden sollte.

Aus diesen Gründen habe sich der Senat nicht die Überzeugung bilden können, dass eine Verständigung erfolgt sei. Daran ändere auch die ergänzend vorgelegte eigene Stellungnahme des Beschwerdeführers nichts, der angegeben habe, seine Verteidigerin habe ihm mitgeteilt, "es sei alles klar, er werde zwei Jahre und zehn Monate kriegen, könne nach Hause gehen und müsse auf Berufung verzichten". Nach ihrer Schilderung des Verfahrensablaufs habe die Verteidigerin nicht von einem Konsens ausgehen können.

4. a) Mit seiner Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 beanstandete der Beschwerdeführer insbesondere, das Gericht habe die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nicht ausgeschöpft und wesentliche Gesichtspunkte unerwähnt gelassen.

b) Das Oberlandesgericht Dresden wies die Anhörungsrüge am 6. Juni 2011 als unbegründet zurück. Es habe keine weiteren Stellungnahmen einholen oder ergänzenden Beweis erheben müssen, da hieraus keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien. Gegen eine Verständigung sprächen weiterhin die unterschiedlichen Anträge von Verteidigung und Staatsanwaltschaft zum Strafmaß. Die Nichteinvernahme von Zeugen in der Hauptverhandlung beweise eine Verständigung ebenfalls nicht.

II.

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Landgerichts sowie des Oberlandesgerichts Dresden. Er rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wegen Nichtwahrung der Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Die Fachgerichte hätten seinem Vortrag zu der getroffenen Verfahrensabsprache in angemessener Weise nachgehen müssen, statt sich mit dienstlichen Erklärungen zu begnügen, die auf die entscheidenden Fragen nicht eingingen und erst recht nicht antworteten. Ferner habe das Oberlandesgericht gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes verstoßen und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

2. Der Beschwerdeführer beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.

III.

Der Freistaat Sachsen hat von einer Äußerung zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat auf eine Stellungnahme des Vorsitzenden des 2. Strafsenats verwiesen, in der dieser die Rechtsprechung seines Senats zum Fehlen des Protokollvermerks über das (Nicht-)Zustandekommen einer Absprache darstellt. Die anderen Strafsenate haben von einer Stellungnahme abgesehen. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für begründet, soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 richtet. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Hiernach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.

1. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Art und Weise der Prüfung des Zustandekommens (also des "ob") einer Verfahrensabsprache vor dem Amtsgericht Pirna durch die Rechtsmittelgerichte als Vorfrage der Entscheidung über die (Un-)Wirksamkeit des von dem Beschwerdeführer erklärten Rechtsmittelverzichts. Der etwaige Inhalt der von ihm behaupteten Verständigung vor dem Amtsgericht Pirna ist ebenso wenig Gegenstand der Verfassungsbeschwerde wie die Verfassungsmäßigkeit urteilsbezogener Verfahrensabsprachen im Strafprozess. Die vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht entschiedene Frage der Vereinbarkeit solcher Absprachen (vgl. dazu lediglich BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1987 - 2 BvR 1133/86 -, NJW 1987, S. 2662 f.) und ihrer gesetzlichen Regelung mit dem Grundgesetz ist im vorliegenden Verfahren somit nicht entscheidungserheblich und kann deshalb offen bleiben.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren dem Beschuldigten, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>). Soweit sie verfassungsrechtlich nicht bereits anderweitig erfasst werden, stellt das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren zudem Mindestanforderungen für eine zuverlässige Sachverhaltsaufklärung auf (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 70, 297 <308>; 122, 248 <270>).

b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 nicht gerecht. Der Beschluss weicht in einer Weise von den obergerichtlichen Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung ab, die verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar ist. Das Oberlandesgericht hätte nicht von einer weiteren Sachaufklärung absehen und verbleibende Zweifel nicht im Ergebnis zulasten des Beschwerdeführers werten dürfen.

aa) Es hätte jedenfalls der augenfälligen Ungereimtheit in der dienstlichen Erklärung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft nachgehen müssen, die primär das Ziel einer Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft verfolgt und für den Fall einer Aufhebung des Haftbefehls die Einlegung einer Beschwerde angekündigt haben will, aber in der Hauptverhandlung die Aufhebung des Haftbefehls beantragte. Ferner hätte das Oberlandesgericht Stellungnahmen der Schöffen und der Urkundsbeamtin einholen müssen, nachdem die damalige Verteidigerin plausibel und widerspruchsfrei erklärt hatte, die Gespräche seien im Sitzungssaal fortgesetzt worden, und die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden ohne sachlichen Gehalt geblieben war.

bb) Schließlich hätte das Oberlandesgericht verbleibende Zweifel nicht zulasten des Beschwerdeführers werten dürfen. Zwar ist es grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nach der auch im Freibeweisverfahren gebotenen Sachaufklärung nicht zu beseitigende Zweifel am Vorliegen von Verfahrenstatsachen grundsätzlich zulasten des Angeklagten gehen. Das dort vom Angeklagten grundsätzlich zu tragende Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts findet aber dort seine Grenze, wo die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts und dadurch entstehende Zweifel des Gerichts ihre Ursache in einem Verstoß gegen eine gesetzlich angeordnete Dokumentationspflicht finden (vgl. BVerfGK 16, 1 <18>).

3. Es kann dahinstehen, ob der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 auch das Gebot effektiven Rechtsschutzes und den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt.

V.

1. Soweit die Kammer die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annimmt, wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer Begründung abgesehen.

2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 86, 90 <122>).

3. Die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 282

Externe Fundstellen: NJW 2012, 1136

Bearbeiter: Holger Mann