Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 682/93, Urteil v. 11.01.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revision des Angeklagten wird die Formel des Urteils des Bezirksgerichts Potsdam vom 15. März 1993 wie folgt ergänzt und neu gefasst:
Der Angeklagte wird wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im übrigen wird der Angeklagte freigesprochen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Bezirksgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision führt zu einer Ergänzung der Urteilsformel dahin, daß der Angeklagte im übrigen freigesprochen wird. Darüber hinaus hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.
Der Erörterung bedarf nur die vom Generalbundesanwalt aufgeworfene Frage, ob die Anklage die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten ausreichend konkretisiert hat. Im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
Die Anklage wirft dem Angeklagten unter dem rechtlichen Gesichtspunkt fortgesetzten sexuellen Mißbrauchs folgendes vor:
"Seit August 1990 wurde die Geschädigte Sylvana B., Tochter der Lebensgefährtin des Angeschuldigten, geboren am 1. Mai 1977, vom Angeschuldigten an verschiedenen Besuchswochenenden am Abend aufgefordert, nicht in das eigene Bett zu gehen, sondern in das der Mutter, welche zu diesem Zeitpunkt sich nicht in der Wohnung aufhielt. Hier wurde die Geschädigte, welche sich meist auf den Bauch gelegt hat, vom Angeschuldigten auf den Rücken gedreht, ihr der Schlüpfer herunter gezogen und das Glied des Angeschuldigten in das Geschlechtsteil der Geschädigten gesteckt. Hierbei kam es nach geschlechtsverkehrsähnlichen Bewegungen des Angeschuldigten auch in den meisten Fällen zum Samenerguß, wobei der Angeschuldigte sein Glied meist zuvor aus dem Geschlechtsteil der Geschädigten zog und sein Ejakulat in ein Taschentuch machte. In einzelnen Fällen veranlaßte der Angeschuldigte die Geschädigte, an seinem Geschlechtsteil zu manipulieren."
Als Tatzeitraum wird im Anklagesatz "von August 1990 bis April 1991" angegeben.
1. Die Anklageschrift hat die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, daß die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muß sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen (st. Rspr., vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. § 200 Rdn. 7; Rieß in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 200 Rdn. 11 f mit Nachweisen). Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll (Schlüchter JR 190, 10, 14). Fehlt es hieran, ist die Anklage unwirksam (std. Rspr.: BGH NStZ 1984, 133; NStZ 1992, 553; Rieß aaO Rdn. 57).
Darüber hinaus hat die Anklage auch die Aufgabe, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozeßverhalten auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf einzustellen. Mängel der Anklage in dieser Hinsicht führen nicht zu ihrer Unwirksamkeit. Insoweit können Fehler auch noch in der Hauptverhandlung durch Hinweise entsprechend § 265 StPO geheilt werden (BGH NStZ 1984, 133; Rieß aaO Rdn. 13 und 59 mit Nachweisen).
2. Welche Angaben zur ausreichenden Bestimmung des Verfahrensgegenstandes erforderlich sind, läßt sich nicht für alle Fälle in gleicher Weise sagen. Ein täglich mehrfach wiederholbares Geschehen im Straßenverkehr wird regelmäßig durch Tatort und Tatzeit, die Tötung eines Menschen durch die Person des Opfers ausreichend individualisiert. Wie indes Fälle der vorliegenden Art zu behandeln sind, ist noch nicht abschließend geklärt.
Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder, die häufig erst nach Jahren aufgedeckt werden, wird eine Individualisierung der einzelnen Akte nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf häufig nicht möglich sein, weil der Erinnerungsfähigkeit des regelmäßig einzigen Tatzeugen Grenzen gesetzt sind. In diesen Fällen darf die mangelnde Individualisierbarkeit der einzelnen Akte nach genauer Tatzeit und genauem Geschehensablauf einer Anklage nicht entgegenstehen, will man gewichtige Lücken in der Strafverfolgung vermeiden. Das Gesamtgeschehen wird in solchen Fällen, unabhängig davon, ob fortgesetzte Handlung oder Tatmehrheit anzunehmen ist, durch Mitteilung des Tatopfers, Mitteilung der Grundzüge der Art und Weise der Tatbegehung, vor allem aber durch Bestimmung des Tatzeitraums ausreichend von anderen möglichen Taten desselben Täters abgegrenzt werden können.
a) Bei einer fortgesetzten Handlung bedarf es einer Mitteilung der Zahl der Einzelakte in der Anklage deshalb nicht zwingend. Zur Abgrenzung des Geschehens von weiteren denkbaren Sachverhalten genügt die Mitteilung der anderen genannten Umstände. Die Zahl der Einzelakte berührt aber den Schuldumfang, deshalb sind Angaben darüber im Urteil regelmäßig erforderlich. Insofern folgen aus den unterschiedlichen Aufgaben von Anklage und Urteil unterschiedliche Anforderungen an deren Inhalt (vgl. zu allem Jähnke GA 1989, 376, 388 ff unter Hinweis auf Nowakowski, Fortgesetztes Verbrechen und gleichartige Verbrechensmenge, 1950, S. 55 ff; ferner zu den Anforderungen an die Tatindividualisierung in der Anklage bei einer fortgesetzten Handlung BGH NStZ 1992, 553; sehr viel enger aber BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 3 und 4; BGH, Beschluß vom 24. Juni 1993 - 4 StR 315/93 -; zu den Anforderungen an die Feststellungen im Urteil zum Mindestschuldumfang bei einer fortgesetzten Handlung: BGH NStZ 1983, 326).
b) Diese Grundsätze finden auch Anwendung, wenn die nicht näher individualisierbaren Handlungen in Tatmehrheit zueinander stehen. Allerdings muß dann die Anklage, anders als bei der fortgesetzten Handlung, die Zahl der vorgeworfenen strafbaren Handlungen mitteilen, da sonst nicht erkennbar ist, ob das Urteil sich innerhalb des von der Anklage vorgegebenen tatsächlichen Rahmens hält und ob es die Anklage erschöpft. Angesichts der Schwierigkeiten, bei Fällen der vorliegenden Art genauere Angaben auch über die Zahl der Taten zu machen, muß es genügen, daß die Anklageschrift eine Höchstzahl von Taten enthält, die Gegenstand des Verfahrens sein sollen. Nur so kann gewährleistet werden, daß der Richter zu einer umfassenden Aufklärung des nicht durch die Zahl der Einzelakte, sondern wesentlich durch die Art und Weise der Tatbegehung, die Person des Opfers und den Tatzeitraum charakterisierten Gesamtgeschehens in der Lage ist.
Nach diesen Grundsätzen ist die vorliegende Anklage ausreichend bestimmt, auch wenn sie die Zahl der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten nicht ausdrücklich nennt.
1. Läge eine fortgesetzte Handlung (tatsächlich) vor, wäre die fehlende Mitteilung der Zahl der Einzelakte in einem Fall der vorliegenden Art ohnehin unschädlich.
2. Aber auch wenn man mit dem Landgericht von Tatmehrheit ausgeht, genügt die Anklage den gesetzlichen Erfordernissen.
a) Tatzeitraum, Tatopfer und die Grundzüge der Art und Weise der Tatbegehung sind bestimmt. Der Anklage läßt sich auch noch entnehmen, von welcher (Höchst-)Zahl einzelner Taten die Staatsanwaltschaft ausgeht. Im Ergebnis der Ermittlungen ist ausgeführt, daß Sylvana im angegebenen Tatzeitraum "an den", also an allen, Wochenenden besuchsweise nach Hause fuhr. Der Angeklagte soll sich innerhalb des angegebenen Zeitraumes nicht an jedem Wochenende, sondern lediglich "an verschiedenen Besuchswochenenden" an Sylvana vergangen haben. Die Zahl der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten ist damit niedriger als die Zahl der Wochenenden; die denkbare Höchstzahl entspricht der Zahl der Wochenenden minus eins. Dies genügt hier für eine ausreichende Konkretisierung der Anklage. Insoweit unterscheidet sich der Fall von den vom Generalbundesanwalt zur Begründung seines Einstellungsantrages herangezogenen Entscheidungen des 3. und 4. Strafsenats.
b) Der Senat verkennt nicht, daß eine solche, durch die Natur der Sache bedingte, ungenaue Fassung der Anklage eine sachgerechte Verteidigung erschweren kann. Dies berührt aber die Wirksamkeit der Anklage im Sinne einer genügend konkreten Umgrenzung des Verfahrensstoffes nicht. Mängeln in dieser Hinsicht hat das Gericht durch Hinweise nach § 265 StPO zu begegnen. Daß in diesem Sinne die Verteidigung des Angeklagten beeinträchtigt gewesen wäre, wird von der Revision nicht geltend gemacht. Die Tatzeiten sind im Urteil hinreichend konkret festgestellt.
Da der Anklage mehr rechtlich selbständige Taten zugrunde lagen, als abgeurteilt wurden, war der Angeklagte im übrigen freizusprechen. Dies hat der Senat nachgeholt. Im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsbegründung keinen Fehler zum Nachteil des Angeklagten aufgezeigt.
Externe Fundstellen: BGHSt 40, 44; NJW 1994, 2556; NStZ 1994, 350; NStZ 1994, 591; StV 1994, 226
Bearbeiter: Rocco Beck