hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 603

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 53/04, Beschluss v. 01.03.2004, HRRS 2004 Nr. 603


BGH 5 StR 53/04 - Beschluss vom 1. März 2004 (LG Hamburg)

Belehrungspflicht bei Zeugnisverweigerungsrecht (Verwertungsverbot; Entfallen des Beruhens bei Kenntnis und Entscheidung für die Aussage; Feststellungsvoraussetzungen für das Entfallen); Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (keine Entziehung einer Verfahrensrüge durch nachträglich zur Akte gereichte dienstliche Äußerungen).

§ 274 StPO; § 52 Abs. 3 StPO; § 337 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Das Verwertungsverbot bei einer unterbliebenen Belehrung nach § 52 Abs. 3 StPO entfällt, wenn feststeht, dass der über sein Zeugnisverweigerungsrecht prozessordnungswidrig nicht belehrte Zeuge sein Weigerungsrecht gekannt hat und davon bei einer ordnungsgemäßen Belehrung keinen Gebrauch gemacht hätte (BGHR StPO § 52 Abs. 3 Satz 1 Verletzung 3; BGH NStZ 1990, 549, 550 jeweils m.w.N.). In einem solchen Fall beruht die Zeugenaussage nicht auf der unterlassenen Belehrung, das auf die Zeugenaussage gestützte Urteil nicht auf einem Verstoß gegen § 52 Abs. 3 StPO.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10. September 2003 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Das Rechtsmittel hat mit seiner auf eine Verletzung des § 52 Abs. 3 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen bedarf es daher nicht.

1. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten maßgeblich auf die Aussage der Nebenklägerin, der als Zeugin vernommenen Stieftochter des Angeklagten, gestützt. Diese hatte den Angeklagten bereits im Ermittlungsverfahren vor der Polizei - nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 3 StPO - belastet. Die Zeugin hat sich dem Strafverfahren als Nebenklägerin angeschlossen.

Der Tatrichter hat seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der belastenden Angaben der Stieftochter auch auf die Angaben ihres als Zeugen vernommenen Bruders gestützt. Auch er war bei einer polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren gemäß § 52 Abs. 3 StPO belehrt worden und sagte dort aus. Das Sitzungsprotokoll enthält hinsichtlich dieser beiden Zeugen keinen Hinweis auf eine Belehrung gemäß § 52 Abs. 3 StPO.

Im Anschluß an die Revisionsbegründung des Angeklagten reichten die berufsrichterlichen Mitglieder des Spruchkörpers dienstliche Äußerungen zur Akte, nach denen die mit unterschiedlicher Sicherheit erinnerte Belehrung der Zeugen nur versehentlich nicht protokolliert, gleichwohl aber erteilt worden sei. Der Sitzungsstaatsanwalt und die Nebenklagevertreterin haben ähnliche Erklärungen abgegeben.

2. Der Verfahrensfehler wird durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen. Da das Protokoll in seinem Beweiswert (§ 274 StPO) weder durch Lücken noch durch Widersprüche oder sonstige offensichtliche Mängel beeinträchtigt ist, steht für das Revisionsverfahren fest, daß die Zeugen entgegen § 52 Abs. 3 StPO nicht über das ihnen zustehende Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden sind. Die nachträglich zur Akte gereichten dienstlichen Äußerungen können der bereits erhobenen Verfahrensrüge aus Rechtsgründen auch nicht nachträglich die Grundlage entziehen (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 11 und 13 jeweils m.w.N.).

3. Auf diesem zur Unverwertbarkeit der Aussagen führenden Verstoß beruht das Urteil auch. Zwar ist anerkannt, daß das Verwertungsverbot entfällt, wenn feststeht, daß der über sein Zeugnisverweigerungsrecht prozeßordnungswidrig nicht belehrte Zeuge sein Weigerungsrecht gekannt hat und davon bei einer ordnungsgemäßen Belehrung keinen Gebrauch gemacht hätte (BGHR StPO § 52 Abs. 3 Satz 1 Verletzung 3; BGH NStZ 1990, 549, 550 jeweils m.w.N.). Denn in einem solchen Fall beruht die Zeugenaussage nicht auf der unterlassenen Belehrung, das auf die Zeugenaussage gestützte Urteil mithin nicht auf einem Verstoß gegen § 52 Abs. 3 StPO.

Hier liegt es zwar auf der Hand, daß die Stieftochter des Angeklagten, nachdem sie im Ermittlungsverfahren nach entsprechender Belehrung den Angeklagten belastet und sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hat, auch bei einer ordnungsgemäßen Belehrung durch den Vorsitzenden keinen Gebrauch von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hätte. Indes kann der Senat hinsichtlich ihres Bruders nicht ausschließen, daß dieser bei ordnungsgemäßer Belehrung das Zeugnis verweigert hätte. Der Bruder war nach den Feststellungen des Landgerichts "sichtlich bestrebt, nicht zwischen die familiären Fronten zu geraten" (UA S. 23). Eben diese, vom Tatrichter anschaulich umschriebene Zwangslage ist aber die ratio legis für das in § 52 StPO niedergelegte umfassende Zeugnisverweigerungsrecht.

Ungeachtet seiner nach Belehrung im Ermittlungsverfahren erfolgten Bekundungen kann der Senat daher nicht ausschließen, daß dieser Zeuge unter dem Eindruck einer durch den Vorsitzenden des Gerichts erteilten erneuten Belehrung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätte.

Die Unverwertbarkeit seiner Aussage bringt die Beweiswürdigung insgesamt zu Fall. Das Landgericht hat der Aussage des Bruders der Nebenklägerin indiziell bestätigenden Charakter beigemessen. Bei dieser Sachlage läßt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, daß der Tatrichter auch ohne die unverwertbare Aussage in einer für eine Verurteilung notwendigen Weise von der Glaubhaftigkeit der Aussage der Stieftochter überzeugt gewesen wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 603

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2004, 212; StV 2004, 297

Bearbeiter: Karsten Gaede