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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 12/01, Beschluss v. 25.04.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 12/01 - Beschluß v. 25. April 2001 (LG Chemnitz)

Tötungsvorsatz (Feststellungsvoraussetzungen); Totschlag; Mord; Besondere Schwere der Schuld; Überzeugungsbildung; Durchentscheidung; Verlesung von Protokollen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen; Verwirkung einer Verfahrensrüge; Dolus generalis; Irrtum über den Kausalverlauf

§ 212 StGB; § 211 StGB; § 15 StGB; § 16 StGB; § 57a StGB; § 57b StGB; § 354 StPO; § 254 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Angeklagte sein Opfer bereits zuvor leichtfertig tötete und anschließend an dem möglicherweise schon gestorbenen Opfer einen versuchten Mord zur Verdeckung seiner vorangegangenen Straftaten beging, so ist die Rechtsfigur der unerheblichen Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf nicht anwendbar, weil die erste und tödliche Handlung nicht von einem festgestellten Tötungsvorsatz des Angeklagten gedeckt war.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 20. Juli 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Dresden zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes und Vergewaltigung unter Einbeziehung einer früher wegen Mordes in Tateinheit mit Beihilfe zum Raub und zum räuberischen Angriff auf Kraftfahrer verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Das Vorliegen der besonderen Schwere der Schuld im Sinne von §§ 57a, 57b StGB hat das Landgericht lediglich in den Urteilsgründen bejaht, im Urteilstenor jedoch nicht ausgesprochen.

I.

Die Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen drang der Angeklagte in einem fahrenden Eisenbahnzug in den Toilettenraum ein, in dem sich die ihm unbekannte Frau D, aufhielt. Er fesselte die Hände der Frau und vollzog den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß in die Scheide. Anschließend steckte er der Frau seinen Slip "tief in den Mund- und Rachenraum, bis ihr Körper schlaff war. Aus Angst, wegen der Vergewaltigung angezeigt zu werden, warf er die leblos wirkende D aus einem Fenster des fahrenden Zuges, um sie zu töten. D verstarb durch Ersticken."

2. Diese Feststellungen belegen eine vorsätzliche Tötung nicht. Das Opfer starb durch Ersticken, und zwar, wie in der Beweiswürdigung zusätzlich ausgeführt wird, "maximal wenige Minuten nach der Knebelung". Mit welcher Vorstellung oder Zielrichtung der Angeklagte die tödliche Knebelung vorgenommen hat, ist weder festgestellt noch sonst im Urteil erörtert. Auch die objektive Feststellung, daß der Angeklagte die Frau knebelte, "bis ihr Körper schlaff war", kann die Feststellung eines Tötungsvorsatzes beim tödlichen Knebeln nicht ersetzen. Ein solcher Vorsatz versteht sich auch nicht etwa von selbst, zumal da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß der Angeklagte die Frau knebelte, um sie an Hilferufen beim nächsten Halt des Zuges und dem dabei zu erwartenden Personenverkehr vor der Toilette zu hindern.

Einen Tötungsvorsatz - und ein Tötungsmotiv - des Angeklagten hat das Landgericht vielmehr erst für den Zeitpunkt festgestellt, als der Angeklagte das "leblos wirkende" Opfer aus dem Zug warf. Danach ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Angeklagte sein Opfer durch Ersticken leichtfertig tötete und anschließend an dem möglicherweise schon gestorbenen Opfer einen versuchten Mord zur Verdeckung seiner vorangegangenen Straftaten beging (vgl. aber UA S. 18). Die Rechtsfigur der unerheblichen Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf (vgl. RGSt 67, 258; BGH NJW 1960, 1261; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 16 Rdn. 7 m.w.N.) kann hier keine Anwendung finden, weil die erste und tödliche Handlung nicht von einem festgestellten Tötungsvorsatz des Angeklagten gedeckt war.

3. Der Senat hat erwogen, ob aus Gründen vernünftiger Verfahrensökonomie - insbesondere mit Rücksicht auf die Nebenkläger, deren Interessen durch das Erfordernis erneuter Verhandlung infolge einer im Blick auf das Gewicht der Sache ganz ungewöhnlichen tatrichterlichen Nachlässigkeit besonders stark beeinträchtigt werden - eine Durchentscheidung auf den nach den bislang getroffenen unzulänglichen Feststellungen denkbar mildesten Schuldspruch der Vergewaltigung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Mord in Betracht zu ziehen ist; hierfür käme als Einzelstrafe entweder erneut lebenslange Freiheitsstrafe (wegen offensichtlicher Unanwendbarkeit einer Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB) in Betracht oder aber (in Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO ) zwar die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe, die dann jedoch ebenfalls nach § 55 StGB auf eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe zurückzuführen wäre.

So zu verfahren, ist dem Senat indes versagt, da eine Verfahrensrüge mit der die prozeßordnungswidrige Gewinnung der den Schuldspruch tragenden Feststellungen durch Verlesung von Protokollen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen des Angeklagten beanstandet wird, auf der Grundlage gefestigter, den Senat bindender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 1, 337, 339; 14, 310, 311; 22, 170, 171; BGHR StPO § 254 Abs. 1 - Vernehmung, richterliche 2, 6, insoweit in BGHSt 42, 15 nicht abgedruckt; BGH NStZ 1.995, 47) Erfolg haben müßte. Ein Fall insgesamt derart ungewöhnlich mangelhafter Sachbehandlung durch den Tatrichter ist nicht geeignet, eine Modifizierung jener Rechtsprechung (etwa im Sinne der vom Landgericht weitgehend wörtlich - jedoch ohne Zitierung - übernommenen Mindermeinung von Bohlander NStZ 1998, 396) in einem Anfrageverfahren zur Überprüfung zu stellen. Es bestünde hier letztlich auch keine tragfähige Grundlage, eine Verwirkung jener Verfahrensrüge in Betracht zu ziehen.

Mithin muß es bei der Aufhebung des Urteils auf die Sachrüge sein Bewenden haben. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.

II.

Für die neue Hauptverhandlung bemerkt der Senat:

1. Der neue Tatrichter wird - gemäß der genannten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs statt einer im Einverständnis aller Prozeßbeteiligten erfolgten Verlesung der Protokolle der polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen des Angeklagten, wie sie vor dem Landgericht Chemnitz stattgefunden hat - die Vernehmungsbeamten zu hören haben. Dabei werden den Beamten erforderlichenfalls die genannten Protokolle vorzuhalten sein. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, daß in das - im übrigen sehr knappe - amtsrichterliche Protokoll vom 5. Januar 2000 polizeiliche Protokolle nicht etwa in der Weise inkorporiert sind, daß auch letztere nach § 254 StPO verlesen werden dürften (vgl. BGHR StPO § 254 Abs. 1 - Vernehmung,. richterliche 1, 2, 6). -

2. Im Falle der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB sind die Feststellungen des früheren Urteils zur Tat in der Weise mitzuteilen, daß ein in den relevanten Punkten deutliches Bild der Tat entsteht.

3. Da das Landgericht es verabsäumt hat, die in den Urteilsgründen angenommene besondere Schwere der Schuld im Urteilstenor auszusprechen, und die Staatsanwaltschaft eine Revision nicht eingelegt hat, muß es im Fall der erneuten Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe bei der Nichtfeststellung besonderer Schwere der Schuld verbleiben (BGHSt 39, 121; BGH NStZ 2000,194).

Bearbeiter: Karsten Gaede