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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 263

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 ARs 27/10, Beschluss v. 18.01.2011, HRRS 2011 Nr. 263


BGH 4 ARs 27/10 - Beschluss vom 18. Januar 2011 (BGH)

Anfrageverfahren; rückwirkende Aufhebung der Höchstfrist der Sicherungsverwahrung (anwendbares Recht; Rückwirkung; andere gesetzliche Regelung; EMRK); Gesetzlichkeitsprinzip.

Art. 5 EMRK; Art. 7 EMRK; § 2 Abs. 6 StGB; § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, nach der sich aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB ergibt.

2. Ohne eine entsprechende, ausdrückliche Aussage des Bundesgesetzgebers ist die Annahme, dass sich dieser mit neuem innerstaatlichem Recht über die durch Ratifizierung der MRK übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland hinwegsetzen wollte, nicht gerechtfertigt.

Entscheidungstenor

Die beabsichtigte Entscheidung des 5. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 4. Strafsenats, der an dieser fest hält.

Gründe

Der 5. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:

Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergibt sich für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB.

Er hat daher mit Beschluss vom 9. November 2010 beim 4. Strafsenat angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, bei den anderen Strafsenaten, ob dieser Rechtsauffassung zugestimmt wird.

Der beabsichtigten Entscheidung des 5. Strafsenats steht Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegen (Beschluss vom 12. Mai 2010 - 4 StR 577/09, EuGRZ 2010, 359 = NStZ 2010, 567). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest und bemerkt ergänzend:

1. Die Ausführungen im Anfragebeschluss zur Beachtlichkeit des Willens des innerstaatlichen Gesetzgebers vermögen nicht zu überzeugen.

Ohne eine entsprechende, ausdrückliche Aussage des Bundesgesetzgebers ist die Annahme, dass sich dieser mit neuem innerstaatlichem Recht über die durch Ratifizierung der MRK übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland hinwegsetzen wollte, nicht gerechtfertigt. Nur wenn feststehen würde, dass insoweit eine eindeutige Abweichung gewollt war, würde einer Konventionsregelung eine abweichende, innerstaatliche Regelung trotz Verstoßes gegen Völkerrecht vorgehen (vgl. dazu Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Einf. MRK/IPBPR Rn. 43 m.w.N.). Abgesehen davon, dass eine solche Annahme schon im Hinblick auf die verfassungsrechtlich verankerte Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung fern liegt (vgl. dazu Streintz in Sachs, GG, 5. Aufl., Art. 24 Rn. 6; Art. 25 Rn. 9 sowie Art. 59 Rn. 65a), ergeben die vom anfragenden Senat in Bezug genommenen Gesetzesmaterialien aus den Beratungen zum 2. Strafrechtsreformgesetz dafür keinen Anhalt. Der Gesetzgeber war lediglich der Auffassung, die getroffene Regelung verstoße im Ergebnis nicht gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK; der Wille zur bewussten Missachtung dieser Gewährleistung der Konvention kann den Materialien nicht entnommen werden. Dies widerspräche im Übrigen Art. 27 Satz 1 des Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VtrRKonvG), wonach kein Vertragsstaat völkervertragsrechtlich übernommene Verpflichtungen unter Berufung auf innerstaatliches Recht missachten darf. Ein abweichender Wille des historischen Gesetzgebers wäre außerdem spätestens durch das Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) als überholt anzusehen.

Abschließend verweist der Senat in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen in der jüngst ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs zur Reichweite des konventionsrechtlichen Rückwirkungsverbotes im Recht der Sicherungsverwahrung, in denen auf die Verpflichtung der einzelnen Staaten zur Beseitigung von Konventionsverstößen in Parallelfällen hingewiesen wird (EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, K. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17792/07, Tz. 78 - 83).

2. Eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der eine Rückwirkung enthaltenden Regelungen zur Sicherungsverwahrung in ihrer hier anzuwendenden Fassung mit dem Grundgesetz bleibt dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 263

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2011, 139

Bearbeiter: Karsten Gaede