HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1144
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, GSSt 1/08, Beschluss v. 07.10.2008, HRRS 2008 Nr. 1144
Hat der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist, so steht dies der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB entgegen.
Die Vorlage betrifft die Frage, ob es der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB entgegensteht, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist.
1. Dem 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs liegen zwei Revisionssachen vor, deren Entscheidung nach dessen Auffassung jeweils von der Beantwortung dieser Frage abhängt.
a) Verfahren 4 StR 314/07 gegen J. W.:
Dem Verfahren liegt eine Verurteilung durch das Landgericht Bielefeld wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten zugrunde. Der vielfach und massiv vorbestrafte Verurteilte hatte sich - insoweit noch uneingeschränkt schuldfähig - vorsätzlich betrunken. Zu seinen Gunsten wurde eine Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von über vier Promille festgestellt; seine Schuldfähigkeit war jedenfalls erheblich vermindert, möglicherweise sogar völlig aufgehoben. In diesem Zustand beging er eine gefährliche Körperverletzung, durch die er dem Tatopfer schwere Verletzungen zufügte. Nachdem in einem ersten Revisionsverfahren die neben der Strafe angeordnete Sicherungsverwahrung aufgehoben worden war, ordnete das Landgericht nach erneuter Verhandlung und Entscheidung über den Maßregelausspruch die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an. Dieser leide an einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung, die zwar für sich betrachtet seine Einsichtsund Steuerungsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtigt habe. Wegen einer Wechselwirkung zwischen der Persönlichkeitsstörung und einer hierauf beruhenden Alkoholsucht sei der Verurteilte jedoch entweder gar nicht oder nur erheblich vermindert in der Lage gewesen, sein Verhalten im Hinblick auf die von ihm begangene gefährliche Körperverletzung zu steuern. Während er in Anwendung des Zweifelssatzes (nur) wegen Vollrausches schuldig gesprochen und bestraft worden sei, müsse in Befolgung der Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs hinsichtlich des Maßregelausspruchs der Zweifelssatz gewendet werden: Insoweit sei lediglich von einer gesicherten erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit durch den fortdauernden Zustand schwerer seelischer Abartigkeit (in Verbindung mit einer deutlichen Alkoholisierung) auszugehen; in dessen Folge seien auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten, die eine Gefahr für die Allgemeinheit begründeten. Auf dieser Grundlage ordnete das Landgericht die Unterbringung des Verurteilten nach § 63 StGB an, da diese im Verhältnis zu § 66 Abs. 1 StGB die weniger beschwerende Maßregel darstelle. Das Urteil wurde am 11. August 2004 rechtskräftig.
Der Verurteilte befand sich ab 16. November 2004 im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 22. September 2006 erklärte eine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn die Unterbringung gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt, weil bei dem Verurteilten keine Persönlichkeitsstörung vorliege, so dass - obwohl er weiterhin gefährlich sei - die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorlägen. Die noch offene Restfreiheitsstrafe von knapp vier Monaten verbüßte der Verurteilte bis 25. Januar 2007. Seit 26. Januar 2007 wird der nach § 275a Abs. 5 StPO erlassene Unterbringungsbefehl des Landgerichts Bielefeld gegen ihn vollzogen.
Die Staatsanwaltschaft hat am 26. Oktober 2006 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 3 StGB beantragt. Dem ist das Landgericht Bielefeld gefolgt. Gegen dessen Urteil wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
b) Verfahren 4 StR 391/07 gegen W. H.:
Der wiederholt, unter anderem wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung vorbestrafte Verurteilte war durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet. Der Verurteilte hatte in einem Rausch die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung, der versuchten Vergewaltigung und des versuchten Totschlags verwirklicht. Die Maßregel hatte das Landgericht damit begründet, dass der Verurteilte aufgrund einer Persönlichkeitsstörung zur Begehung schwerster, sexuell motivierter Straftaten neige.
Durch Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 wurde in einem Sicherungsverfahren erneut die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Gegenstand dieses Verfahrens war eine gefährliche Körperverletzung, die der Verurteilte während einer Flucht aus dem Maßregelvollzug begangen hatte.
Der Verurteilte befand sich anschließend nahezu ununterbrochen im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte eine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Saarbrücken gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB die Unterbringungsanordnungen für erledigt, da ein Zustand im Sinne des § 20 StGB nicht (mehr) gegeben sei; gleichwohl sei der Verurteilte weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit einzustufen. Seit 23. Dezember 2005 befand sich der Verurteilte sodann in Strafhaft. Er verbüßte bis 22. Juni 2007 eine Restfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Seitdem ist er einstweilen untergebracht (§ 275a Abs. 5 StPO).
Die Staatsanwaltschaft hat am 14. November 2006 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 3 StGB beantragt. Dem ist das Landgericht Saarbrücken gefolgt. Gegen dessen Urteil wendet sich die Revision des Verurteilten, der die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
2. Der 4. Strafsenat beabsichtigt, beide Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Hieran sieht er sich jedoch durch das Urteil des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 (BGHSt 52, 31) gehindert.
a) Der 1. Strafsenat hat dort ausgesprochen, dass die Entscheidung nach § 67d Abs. 6 StGB, die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus sei erledigt, regelmäßig nur dann Grundlage für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB sein könne, wenn andernfalls der Betroffene in die Freiheit entlassen werden müsste. Habe er dagegen im Anschluss an die Erledigung noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden sei, so könne nachträgliche Sicherungsverwahrung regelmäßig nur unter den Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB angeordnet werden.
Für diese Auffassung hat sich der 1. Strafsenat maßgeblich auf den Willen des Gesetzgebers gestützt, wie er in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (BTDrucks. 15/2887 S.14) Ausdruck gefunden habe. Bei seiner Entscheidung hat der 1. Strafsenat zwar eine Ausnahme für Fälle erwogen, in denen nach der Erledigungsentscheidung nur noch für sehr kurze Zeit Strafe zu vollstrecken wäre, er hat dies jedoch angesichts einer Restfreiheitsstrafe von mehr als zehn Monaten in dem entschiedenen Fall offen gelassen.
b) Dem will der 4. Strafsenat nicht folgen. Er hält die Gesetzesmaterialien für unklar, möchte ihnen aber jedenfalls nicht in dem vom 1. Senat befürworteten Verständnis ausschlaggebende Bedeutung für die Auslegung des § 66b StGB beimessen. Diese Auslegung hätte nämlich wegen des grundsätzlichen Vorwegvollzugs der Maßregel nach § 63 StGB (§ 67 Abs. 1 StGB) und deren Teilanrechnung lediglich bis zu zwei Dritteln der zugleich verhängten Strafe (§ 67 Abs. 4 StGB) zur Folge, dass der Anwendungsbereich des § 66b Abs. 3 StGB in unvertretbarer Weise verkürzt werde; denn hierdurch würden regelmäßig die von seinem Wortlaut eindeutig erfassten Fälle ausgenommen, in denen gleichzeitig auf Strafe und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus erkannt worden war. Die Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB allein auf schuldlos handelnde Täter führe auch zu Wertungswidersprüchen. Abgesehen davon könnte es zu sachlich nicht gerechtfertigten Unterschieden aufgrund von Zufälligkeiten im Vollstreckungsverlauf kommen. Zudem sei eine Anordnung nach § 66b Abs. 3 StGB unter geringeren Anforderungen im Vergleich zu den Fällen des § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB, namentlich ohne neue Tatsachen ("Nova") durchweg gerechtfertigt, weil in jenen Fällen eine im Erkenntnisverfahren nicht angeordnete freiheitsentziehende Maßregel von unbestimmter Dauer nachträglich hinzugefügt werde, während durch § 66b Abs. 3 StGB bei einem nach wie vor hochgefährlichen Täter eine bereits angeordnete, dann aber für erledigt erklärte freiheitsentziehende Maßregel von unbestimmter Dauer (§ 63 StGB) nur durch eine andere ersetzt werde. Die vom 1. Strafsenat erwogene Ausnahme für kurze Reststrafen führe mangels klarer Grenzziehung zu großer Rechtsunsicherheit in einem außerordentlich sensiblen Rechtskreis; dagegen würden die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überschritten, wenn der Bundesgerichtshof insoweit eine eindeutige Grenze festlegen wollte.
3. Auf Anfragebeschluss (§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG) des 4. Strafsenats vom 5. Februar 2008 (NStZ 2008, 333 m. Anm. Ullenbruch) hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 2. April 2008 - 1 ARs 3/08 (JR 2008, 255 m. Anm. Kudlich) an seiner Rechtsauffassung festgehalten. Daraufhin hat der 4. Strafsenat mit Beschluss vom 19. Juni 2008 (NJW 2008, 2661) dem Großen Senat gemäß § 132 Abs. 2 und Abs. 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist? Da in beiden ihm vorliegenden Verfahren die Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB nicht vorlägen und - jedenfalls in der zweiten Sache - nach der Erledigungsentscheidung noch längere Freiheitsstrafe zu vollstrecken gewesen sei, sei die divergierend beurteilte Frage entscheidungserheblich.
4. Der Generalbundesanwalt folgt im Wesentlichen der Auffassung des 4. Strafsenats. Er beantragt zu beschließen:
Der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB steht nicht entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist.
Die Vorlegungsvoraussetzungen sowohl für eine Divergenzvorlage (§ 132 Abs. 2 GVG) als auch für eine Grundsatzvorlage (§ 132 Abs. 4 GVG) sind gegeben. Die Divergenz zwischen den beteiligten Senaten in der vorgelegten Rechtsfrage ist offensichtlich. Deren zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung klärungsbedürftige grundsätzliche Bedeutung ergibt sich aus einer zunehmenden Praxisrelevanz in Verfahren mit überaus weit reichender und einschneidender Auswirkung für die betroffenen Verurteilten. Die Beurteilung des vorlegenden Senats im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage in den beiden der Vorlage zu Grunde liegenden Verfahren ist jedenfalls vertretbar und damit für den Großen Senat für Strafsachen bindend (vgl. BGHSt 41, 187, 194; 51, 298, 302).
In der Sache hält der Große Senat für Strafsachen eine Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB für geboten, die von dessen Anwendung die Fälle ausnimmt, in denen im Zeitpunkt der Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB noch die Verbüßung von Freiheitsstrafe aussteht, auf die zugleich mit der Unterbringung nach § 63 StGB erkannt worden war. Eine solche Einschränkung, welche stattdessen die Anwendung des § 66b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB offen lässt, entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Sie widerstreitet dem Wortlaut der Norm nicht und steht im Einklang mit Systematik und Zweck des Gesetzes. Eine Ausnahme für den Fall ausstehender kurzer Reststrafe verwirft der Große Senat.
1. Nach dem zweifelsfreien Willen des Gesetzgebers soll in den Fällen, in denen der Verurteilte nach der Erledigungserklärung gemäß § 67d Abs. 6 StGB noch den Rest einer zugleich mit der Maßregelanordnung nach § 63 StGB verhängten Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, § 66b Abs. 3 StGB keine Anwendung finden; vielmehr soll zu gegebener Zeit geprüft werden, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB zu verhängen ist. Dies ergibt sich eindeutig aus der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks. 15/2887 S. 14). Dort heißt es:
"Anwendung soll die Vorschrift (§ 66b Abs. 3 StGB) vor allem in denjenigen Fällen finden, in denen der Untergebrachte von dem erkennenden Gericht für schuldunfähig gehalten und deshalb nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde, ohne dass parallel eine Freiheitsstrafe verhängt werden konnte. Erfasst werden von der Vorschrift daneben aber auch die Fälle, in denen das Gericht unter Anwendung des § 21 StGB neben der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine Freiheitsstrafe verhängt hatte, in denen die Freiheitsstrafe aber in Umkehrung der regelmäßigen Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 Abs. 1 und 2 StGB) bereits vor dem Vollzug der Maßregel vollständig vollstreckt wurde und somit der Untergebrachte nunmehr aus der Maßregel in die Freiheit zu entlassen wäre. In Fällen, in denen nach Erledigung der Maßregel noch eine parallel verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, ergibt sich demgegenüber zunächst kein Bedürfnis für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB - neu -. Hier kommt ggf. vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 und 2 StGB - neu - in Betracht."
Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I 1838) ging im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu kompetenzwidrigen Landesunterbringungsgesetzen vom 10. Februar 2004 (BVerfGE 109, 190) auf ein notgedrungen überaus eilig durchgeführtes Gesetzgebungsverfahren zurück. Darin traten zwar Divergenzen und Unstimmigkeiten zu Einzelpunkten auf. All dies änderte indes für die hier in Rede stehende Frage letztlich nichts an der zitierten Auffassung, da die Bundesregierung gegenüber abweichenden Vorstellungen ausdrücklich am Gesetzentwurf und an seiner Begründung festgehalten hat (vgl. Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung der Bundesregierung, BTDrucks. 15/2945 S. 2 f., 4 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BTDrucks. 15/3346 S. 17). Dieser ist der Gesetzgeber gefolgt. Ihr kommt bei der Auslegung der erst vor relativ kurzer Zeit in Kraft getretenen Norm maßgebliche und ausschlaggebende Bedeutung zu.
2. Auf den ersten Blick deutet allerdings der Wortlaut des § 66b Abs. 3 StGB darauf hin, dass die Vorschrift auch dann Anwendung finden soll, wenn neben der Maßregel des § 63 StGB, weil die Schuldfähigkeit des Täters nicht ausgeschlossen, sondern nur erheblich vermindert war (§ 21 StGB), auch Strafe verhängt wurde. Gerade diese Fälle würden aber - aufgrund des Zusammenspiels der Regelungen zu Vorverbüßung und Anrechnung (§ 67 Abs. 1 und 4 StGB) - bei der dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB vom Anwendungsbereich der Norm regelmäßig ausgenommen.
Es verblieben insoweit nur die eher seltenen Fälle der Vollstreckungsumkehr (in der Entwurfsbegründung ausdrücklich benannt) und der vollständigen Erledigung der verhängten Strafe durch Anrechnung nach § 51 StGB. Jedoch ist der Wortlaut des § 66b Abs. 3 StGB nicht in der Weise eindeutig, dass er einer restriktiven, dem Willen des Gesetzgebers Rechnung tragenden Auslegung zwingend entgegenstünde.
Hinzu kommt, dass sich im Gesamtwortlaut des § 66b StGB durchaus Hinweise finden, die das vom Gesetzgeber gewollte Verständnis des § 66b Abs. 3 StGB widerspiegeln. Während Absatz 1 und Absatz 2 der Vorschrift die Entwicklung des Verurteilten im Strafvollzug als ergänzendes Element der Gesamtwürdigung, auf welche die negative Wahrscheinlichkeitsprognose zu stützen ist, ausdrücklich bezeichnen, ist in Absatz 3 Nr. 2 ausdrücklich nur die Entwicklung des Verurteilten während des Vollzugs der Maßregel benannt. Dies lässt sich im Hinblick auf das Gebot einer sorgfältigen und auf umfassender Grundlage zu treffenden Prognoseentscheidung (vgl. BVerfGE 109, 190, 241), bei der auch das Vollzugsverhalten ein maßgebliches Entscheidungskriterium ist (vgl. dazu Bericht des Rechtsausschusses aaO S. 17), im Sinne des gesetzgeberischen Willens dahin deuten, dass die Vorschrift des § 66b Abs. 3 StGB bei noch offenem Strafvollzug nicht zur Anwendung gelangen soll.
3. Durch die vom Gesetzgeber gewollte restriktive Normenanwendung entstehen keine Wertungswidersprüche, die deren Beachtlichkeit entgegenstehen könnten. Insofern gilt:
a) Zwar werden ursprünglich als schuldlos beurteilte Täter bei der in Frage stehenden einschränkenden Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB im Ausgangspunkt scheinbar strenger behandelt als Täter, die mit, wenn auch erheblich verminderter, Schuld straffällig geworden sind; bei ihnen bestehen - abgesehen davon, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB nie nach der Begehung nur einer der dort in Nr. 1 benannten Taten angeordnet werden kann (s. demgegenüber § 66b Abs. 2 StGB) - grundsätzlich geringere formelle Voraussetzungen für die Anordnung als bei den von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB erfassten Tätern. Dies ist jedoch nicht von vornherein sachwidrig. Denn gegenüber dem Täter, auf den mit Mitteln des Strafvollzugs noch eingewirkt werden kann, steht hierdurch immerhin ein, wenn auch begrenztes, Mittel zur Eindämmung seiner Gemeingefährlichkeit zur Verfügung.
Anders liegt es dagegen bei demjenigen, der wegen Schuldunfähigkeit nicht bestraft werden konnte und daher allein der Maßregel nach § 63 StGB unterworfen wurde. Muss dessen Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach einer maßgeblichen Veränderung seines psychischen Zustands oder besserer Erkenntnis hierüber gemäß § 67d Abs. 6 StGB beendet werden, so bleibt, wenn seine besondere Gefährlichkeit unvermindert fortbesteht, keine andere Möglichkeit als die Fortsetzung der die Allgemeinheit schützenden Unterbringung in der veränderten Form der Sicherungsverwahrung.
b) Auf Täter, die (nur) mit erheblich verminderter Schuld gehandelt hatten und daher sowohl zu Freiheitsstrafe verurteilt als auch nach § 63 StGB untergebracht wurden, wird § 66b Abs. 3 StGB bei der dem gesetzgeberischen Willen entsprechenden Norminterpretation - wie dargelegt - nur ausnahmsweise Anwendung finden. Dabei werden in der Praxis Ausnahmefälle um so eher in Betracht kommen, je kürzer die verhängte Freiheitsstrafe war; denn regelmäßig werden nur kurze Freiheitsstrafen, etwa durch Anrechnung nach § 51 StGB, im Zeitpunkt der Entscheidung nach § 67d Abs. 6 StGB bereits vollständig erledigt sein können. Darin könnte eine Besserstellung von Tätern gesehen werden, die zu höheren Freiheitsstrafen verurteilt worden sind und deshalb dem Anwendungsbereich des § 66b Abs. 3 StGB eher entzogen sind. Ein gegen die Beachtlichkeit der historischen Auslegung sprechender Wertungswiderspruch liegt indes auch hierin nicht:
Die für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erforderliche besonders hohe Gemeingefährlichkeit wird bei jenen geringer Bestraften nicht so häufig vorkommen. Erfüllt ein solcher Verurteilter wegen ausnahmsweise bereits vollständiger Strafvollstreckung die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB, so wird bei ihm daher besonders sorgfältig zu prüfen sein, ob nicht bei Ausübung des tatrichterlichen Ermessens die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ausscheidet. Die zu treffende Ermessensentscheidung wird bei der einschränkenden Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB weitgehend die Gefahr bannen können, dass nach der Zufälligkeit des Vollstreckungsablaufs unterschiedliche Entscheidungen über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung getroffen werden, je nachdem, ob § 66b Abs. 3 StGB oder später - nur - § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB zur Anwendung kommt.
4. Die Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB entsprechend den Aussagen der Gesetzesmaterialien führt auch nicht zu einer vom Gesetz nicht gewollten Einschränkung des Schutzes der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Tätern. Diese werden in aller Regel - trotz Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB - noch so hoch bestraft worden sein, dass dem Interesse der Allgemeinheit, gegen sie nach Erledigung ihrer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus die nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen, nach dem anschließenden Strafvollzug durch Anwendung des § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB Rechnung getragen werden kann. Der Rückgriff auf diese Bestimmungen wäre freilich ausgeschlossen, wenn die Regelung des § 66b Abs. 3 StGB ihnen gegenüber Sperrwirkung entfaltete oder wenn ihrer Anwendung mit Blick auf die Notwendigkeit des Erkennbarwerdens neuer Tatsachen (vgl. § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB) regelmäßig unüberwindbare rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Beides ist indes nicht der Fall:
a) Eine Sperrwirkung des § 66b Abs. 3 StGB gegenüber § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB ist dem Gesetz nicht zu entnehmen; ihre Annahme würde dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen (vgl. auch insoweit die Begründung des Gesetzentwurfs aaO S. 14).
b) Auch die erforderlichen sog. Nova werden in aller Regel mit Blick auf die Besonderheiten der hier in Rede stehenden Konstellation zu bejahen sein. Allerdings trifft zu, dass im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot grundsätzlich strenge Anforderungen an die Annahme neu erkennbar werdender Tatsachen zu stellen sind. Nach der Rechtsprechung aller Senate darf deshalb die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht auf Umstände gestützt werden, die der Tatrichter des Anlassverfahrens erkannt hat oder hätte erkennen müssen; denn sie darf nicht der nachträglichen Korrektur eines Urteils dienen, in dem die originäre Anordnung der Sicherungsverwahrung fehlerhaft abgelehnt worden war (etwa BGHSt 50, 121, 125 f.; 50, 275, 278; 51, 185, 187 f.; s. die weiteren Nachw. bei Fischer, StGB 55. Aufl. § 66b Rdn. 18).
Diese strengen Anforderungen, die auch nach Auffassung des Großen Senats grundsätzlich keine Aufweichungen vertragen, sind indes für die Fälle entwickelt worden, in denen gegen den Verurteilten in der Anlassentscheidung allein auf Strafe erkannt worden war. Der Täter, dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit im Ursprungsverfahren nicht erkannt worden ist, bei sorgfältiger Aufklärung der maßgeblichen Umstände aber hätte erkannt werden können, soll - so der Wortlaut und auch der Sinn und Zweck des § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB - nicht unter Durchbrechung der Rechtskraft nachträglich in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden dürfen.
In der hier zu beurteilenden Konstellation war aber nicht nur auf Strafe, sondern gleichzeitig auch auf die Maßregel nach § 63 StGB erkannt worden. Diese Maßregelanordnung beruhte auf der Prognose, dass von dem Verurteilten aufgrund seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Damit wird vielfach aber schon im Ausgangsurteil eine Gefährlichkeit des Verurteilten festgestellt worden sein, die auch den erhöhten Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose im Sinne des § 66b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB genügt; im Verfahren zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist daher insoweit allein die Frage zu beantworten, ob diese Gefahr fortbesteht. Dies hat notwendigerweise Auswirkungen für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der nach der Anlassverurteilung erkennbar werdenden Tatsachen, die auf die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hindeuten. Anders als in den von der dargestellten Rechtsprechung erfassten Fällen, in denen die nachträgliche Sicherungsverwahrung eines Verurteilten zu prüfen ist, gegen den im Anlassurteil allein auf Strafe erkannt worden war, kann hier nicht darauf abgestellt werden, ob nachträglich neue Tatsachen erkennbar werden, die erstmals auf die besondere Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Vielmehr kann es nur darauf ankommen, ob die fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, der zur positiven Feststellung erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei Tatbegehung (§ 21 StGB) und zur Anordnung nach § 63 StGB führte. Ob diese Tatsachen dem ursprünglichen Tatrichter bekannt waren oder bei pflichtgemäßer Beachtung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) hätten bekannt sein müssen, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Es genügt, dass sie vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf abweichender Grundlage belegen und somit rechtlich in einem neuen Licht erscheinen (vgl. BVerfG - Kammer - JR 2006, 474, 476).
Waren etwa in der Lebensführung des Verurteilten bis zur Anlassverurteilung Tatsachen erkennbar, die einen Hang zur Begehung von Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB belegen konnten, wurde diesen aber deswegen im Ausgangsverfahren rechtlich keine eigenständige Beachtung geschenkt, weil sich der Tatrichter von einer dauerhaften psychischen Störung des Verurteilten überzeugte, die über die positive Feststellung der Voraussetzungen des § 21 StGB in Verbindung mit der lediglich indiziellen Bedeutung der früheren Straffälligkeit des Verurteilten für dessen zukünftige Gefährlichkeit zur Unterbringung nach § 63 StGB führte, so stellt es eine neue Tatsache im Sinne von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB dar, wenn nunmehr allein aus der Disposition des Verurteilten zur Begehung von schwerwiegenden Straftaten auch ohne das Hinzutreten einer dauerhaften psychischen Störung seine qualifizierte Gefährlichkeit für die Allgemeinheit rechtlich eigenständig herzuleiten ist. Ein derartiges Verständnis wird durch das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot nicht gehindert. Denn hier steht nicht die erstmalige Anordnung einer zeitlich nicht begrenzten freiheitsentziehenden Maßregel in Rede, sondern im Kern - bei durchgängig angenommener Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit - die Überweisung von einer derartigen Maßregel in eine andere unter verschärften Anordnungsvoraussetzungen. Die Rückwirkungsproblematik stellt sich somit allenfalls in stark abgeschwächter Form. Das rechtfertigt in diesen Fällen die großzügigere Auslegung des Tatbestandsmerkmals der neu erkennbar werdenden Tatsachen.
5. Wegen des aus dem Normgefüge der § 66b StGB, § 275a StPO, § 74f GVG folgenden strikten Zusammenhangs der nachträglich anzuordnenden Maßregel mit der Anlassverurteilung steht nur die Vollstreckung des Restes der Strafe, die in der Anlassverurteilung ausgesprochen worden war, der Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB entgegen. Dies ist - entsprechend der Formulierung der Ausgangsentscheidung des 1. Strafsenats und der Vorlage - ausdrücklich klarzustellen, und zwar mit Rücksicht auf Fälle, in denen gemäß § 67d Abs. 6 StGB zugleich mehrere Maßregelanordnungen für erledigt erklärt wurden (vgl. den zweiten Vorlagefall).
6. § 66b Abs. 3 StGB findet nach der Erledigungserklärung gemäß § 67d Abs. 6 StGB auch dann keine Anwendung, wenn nur noch ein kurzer Strafrest zur Vollstreckung ansteht. Zwar verblasst in diesen Fällen das Argument der unvollständigen Gesamtwürdigung, da von dem nur kurzfristigen Reststrafvollzug relevante Auswirkungen auf die Gefährlichkeit des Verurteilten und Erkenntnisse hierzu im Allgemeinen nicht mehr ernstlich zu erwarten sind.
Gleichwohl ist die insoweit vom 1. Strafsenat erwogene Ausnahme von der einschränkenden Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB nicht anzuerkennen. Ihr widerstreitet das vom vorlegenden Senat zutreffend benannte Anliegen der Rechtsklarheit, das in Fällen mit großer Eingriffsintensität besonders hohen Stellenwert hat. Der Große Senat verkennt nicht die praktischen Schwierigkeiten, die sich in diesen Fällen für die notwendig kurzfristige Antragstellung nach § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB stellen. Dieses Problem ist indes eine vom Gesetzgeber möglicherweise nicht bedachte Folge der von ihm gewollten restriktiven Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB und vom Rechtsanwender, dem die Festlegung von Fristen mangels vorgegebener Maßstäbe versagt ist, im Interesse der Rechtssicherheit hinzunehmen.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1144
Externe Fundstellen: BGHSt 52, 379; NJW 2009, 1010; NStZ 2009, 141; StV 2009, 15
Bearbeiter: Karsten Gaede