HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 716
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 100/07, Urteil v. 13.06.2007, HRRS 2007 Nr. 716
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau vom 17. November 2006 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Nach den der Verurteilung zu Grunde liegenden Feststellungen heirateten der Angeklagte und die Nebenklägerin im Jahre 1997. Im Leben der Eheleute spielte der Konsum von alkoholischen Getränken eine wichtige Rolle. Sie tranken in regelmäßigen Abständen bereits nach dem Aufstehen Alkohol, der Angeklagte überwiegend Bier, die Nebenklägerin eher Schnaps. In der Zeit bis zur Inhaftierung des Angeklagten zur Verbüßung mehrerer Freiheitsstrafen im Jahre 2002 kam es nach dem Konsum von Alkohol mehrfach zu wechselseitigen, lautstarken Beleidigungen und Beschimpfungen. Der Angeklagte, der die Nebenklägerin in solchen Situationen wiederholt schlug, führte in dieser Zeit mehrfach mit der Nebenklägerin gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr durch. Wegen dieser Vorfälle erstattete die Nebenklägerin aus Furcht, erneut vom Angeklagten geschlagen zu werden und ihre Gesamtsituation zu verschlechtern, keine Strafanzeige, und verzieh dem Angeklagten, weil sie dessen Beteuerungen, sich zu ändern, Glauben schenkte.
Nach seiner Entlassung aus der Strafhaft am 4. November 2005 wurde der Angeklagte auf seinen Wunsch von der Nebenklägerin, die Mitleid mit ihm empfand und hoffte, dass er sich nunmehr geändert habe, wieder in deren Wohnung aufgenommen. Zwischen dem 4. und dem 11. November sowie Ende November/Anfang Dezember 2005 erzwang der Angeklagte, nachdem er und die Nebenklägerin zuvor Bier in nicht mehr feststellbaren Mengen getrunken hatten, unter Anwendung körperlicher Kraft den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin. Am 5. Januar 2006 zwang der Angeklagte die Nebenklägerin mit Faustschlägen ins Gesicht und der Drohung, er haue der Nebenklägerin sonst "den Schädel weg", mit ihm oral und danach vaginal zu verkehren.
2. Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten bestritten. Die Strafkammer hat der Nebenklägerin geglaubt, die das Geschehen wie festgestellt geschildert hat, und hierzu, soweit es die Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin betrifft, ausgeführt, dass diese "auf Grund ihrer kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitsvoraussetzungen grundsätzlich in der Lage ist, verlässliche Angaben über Erlebnisse der Art, wie sie sich in ihren Bekundungen finden, zu machen". Sie sei "hinreichend" fähig, gerichtsverwertbare Bekundungen, die auf eigener Wahrnehmung und Erinnerung beruhen, auszudrücken.
Das Rechtsmittel hat mit einer auf die Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO gestützten Rüge Erfolg, sodass es eines Eingehens auf weitere Verfahrensrügen und auf die Sachrüge - auch bezüglich der Strafzumessung - nicht bedarf.
1. Am letzten Hauptverhandlungstag beantragte der Verteidiger des Angeklagten die Einholung eines Sachverständigengutachtens unter anderem zum Beweis der Tatsache, dass die Nebenklägerin "unter einer krankheitswertigen Alkoholabhängigkeit mit bereits eingetretener Persönlichkeitsdeformation leidet, sodass diese sowohl in ihrer Wahrnehmungs- als auch Erinnerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist". Diesen Antrag lehnte das Landgericht mit folgender Begründung ab:
"Bezüglich des Antrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens fehlen bereits von dem Angeklagten benannte Anknüpfungstatsachen, die auf alkoholbedingte neurologische Ausfälle der Zeugin und Nebenklägerin schließen lassen.
Allein der Umstand, dass nach Ansicht des Angeklagten die Zeugin und Nebenklägerin Alkoholikerin ist, rechtfertigt nicht die Annahme, dass sie aus diesem Grunde nicht in der Lage wäre und dies generell, erlebte Sachverhalte zutreffend zu schildern. Einen entsprechenden Erfahrungswert gibt es bei Alkoholabhängigen nicht, entsprechendes ist auch seitens des Angeklagten in seinem Beweisantrag nicht behauptet worden.
Soweit sich aus den Zeugenaussagen insgesamt Widersprüche ergeben, unterliegt dies der Wertung und lässt für sich genommen keine Rückschlüsse darauf zu, dass bei der Zeugin bereits Schädigungen der Persönlichkeit mit daraus folgenden unzutreffenden Wahrnehmungen resultieren".
2. Die Revision beanstandet diese Sachbehandlung zu Recht.
a) Bei dem Antrag handelt es sich nicht lediglich um einen nach § 244 Abs. 2 StPO zu behandelnden Beweisermittlungsantrag, sodass dahinstehen kann, ob sich das Landgericht unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht zu der beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen, sondern um einen Antrag, der dem Beweisantragsrecht unterliegt, das im Rahmen des § 244 Abs. 3 StPO über das von der Aufklärungspflicht Verlangte hinausgeht (vgl. BGH StV 1997, 567, 568 m. N.).
aa) Der Antrag bezeichnet hinreichend bestimmte Beweistatsachen, die dem Sachverständigenbeweis, hier: durch eine psychiatrische Begutachtung (vgl. BGH NStZ 1995, 558; NStZ - RR 1997, 106), zugänglich sind, und genügt damit den nach der Rechtsprechung (vgl. BGHSt 37, 162, 164; 39, 251, 253 jew. m.w.N.) an einen Beweisantrag zu stellenden Anforderungen. Die Behauptung, die Nebenklägerin leide "unter einer krankheitswertigen Alkoholabhängigkeit mit bereits eingetretener Persönlichkeitsdeformation", die zu einer erheblichen Beeinträchtigung sowohl ihrer Wahrnehmungs- als auch Erinnerungsfähigkeit geführt habe, erfüllt unter den hier gegebenen Umständen trotz ihrer "schlagwortartige(n) Verkürzung" (vgl. BGHSt 39, 141, 144) noch die Anforderungen an eine bestimmte Beweisbehauptung.
bb) Es liegt auch nicht der Fall vor, dass die Verteidigung ohne konkrete Grundlage, gewissermaßen "ins Blaue hinein", die Beweiserhebung beantragt hat. Einem Beweisbegehren, das - wie hier - in die Form eines Beweisantrags gekleidet ist, muss allerdings nicht oder allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl aufgestellt wurde, sodass es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. BGH NStZ 2003, 497; StV 2002, 233 m.w.N.). Ob es sich bei einem Beweisbegehren um einen Beweisermittlungsantrag handelt, ist aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht infrage gestellten Tatsachen zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 1989, 334; 2003, 497; NStZ 2006, 405).
Gemessen daran liegt ein Beweisantrag vor. Nach den Feststellungen lag nicht nur bei dem Angeklagten, sondern auch bei der Nebenklägerin ein langjähriger, in dem Zeitraum November 2005 bis Januar 2006 noch andauernder massiver Alkoholmissbrauch nahe. Im Hinblick darauf und auf das in den Urteilsgründen dargestellte Aussageverhalten der Nebenklägerin ist die Beweisbehauptung aus der Sicht eines verständigen Antragstellers keine lediglich aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellte Behauptung, zumal das Landgericht selbst die Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin nur als "grundsätzlich" gegeben erachtet und diese lediglich als "hinreichend" fähig angesehen hat, gerichtsverwertbare Bekundungen zu machen, die auf eigener Wahrnehmung beruhen.
b) Der Antrag hätte daher nur aus einem der in § 244 Abs. 3 und 4 StPO abschließend aufgezählten Gründe (vgl. BGHSt 29, 149, 151) abgelehnt werden dürfen. Das Landgericht hat jedoch in der Beschlussbegründung keinen dieser Ablehnungsgründe angeführt. Soweit die Ausführungen zum Fehlen eines Erfahrungswertes hinsichtlich einer Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit von Alkoholikern dahin ausgelegt werden könnten, dass sich das Landgericht auf seine eigene Sachkunde berufen wollte, würde dies die Ablehnung nicht tragen, weil das Gericht selbst - wie bereits ausgeführt - Unsicherheiten in der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit hat erkennen lassen.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass es für eine Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB entgegen dem Gesetzeswortlaut nicht ausreicht, dass diese nicht lediglich "von vornherein aussichtslos" erscheint. Vielmehr ist erforderlich, dass die hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht (vgl. BVerfGE 91, 1).
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 716
Externe Fundstellen: NStZ 2008, 52; StV 2007, 563
Bearbeiter: Karsten Gaede