Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 343/02, Urteil v. 12.12.2002, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 20. März 2002 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in elf Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in sechs Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in 15 Fällen sowie wegen Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über diese Waffe und mit Erwerb von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Mit ihrer auf die Sachbeschwerde gestützten, wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterblieben ist. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen kam es ab Anfang des Jahres 1999 zu einer Abkühlung der Beziehung des Angeklagten zu seiner zweiten Ehefrau, die sexuelle Kontakte zum Angeklagten immer häufiger ablehnte. Er suchte deshalb seit dieser Zeit vermehrt "Liebe und Zuneigung" bei der am 20. Februar 1987 geborenen Tochter seiner Ehefrau, die im gemeinsamen Haushalt lebte und deren Erziehung ihm mitübertragen war. Ab Frühjahr/Sommer 1999 nahm der Angeklagte in sechs Fällen bei dem damals 12jährigen Mädchen unterschiedliche sexuelle Handlungen vor, ab Juli 2000 bis Anfang Februar 2001 vollzog er bei der nunmehr 13Jährigen in zehn Fällen den Geschlechtsverkehr (Einzelstrafen jeweils drei Jahre Freiheitsstrafe) und in einem Fall kam es zum Oralverkehr (Einzelstrafe: zwei Jahre drei Monate Freiheitsstrafe). In weiteren 15 Fällen führte er bis Juni 2001 mit dem mittlerweile 14jährigen Mädchen den Geschlechtsverkehr durch (Einzelstrafen je zwei Jahre Freiheitsstrafe). Die Duldung der sexuellen Handlungen erreichte der Angeklagte dadurch, daß er der Geschädigten immer wieder damit drohte, er werde sie zu ihrer Großmutter nach Rußland zurückschicken, wenn sie sich ihm nicht fügen oder sich einem Dritten gegenüber offenbaren sollte. Kurz nachdem sich seine Ehefrau im Juni 2001 von ihm getrennt und mit ihren beiden Kindern aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war, erwarb der Angeklagte - nach seinen Angaben in Selbstmordabsicht - eine funktionsfähige halbautomatische Selbstladepistole nebst Magazin, Schalldämpfer und scharfen Patronen, die er bis zu seiner Festnahme am 16. August 2001 in seinem Pkw aufbewahrte.
Der Angeklagte ist vorbestraft. Er wurde im Jahre 1986 wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Geldstrafe, 1988 wegen eines im September 1986 begangenen Meineids zu einem Jahr Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war, und im Jahre 1990 wegen Totschlags in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb einer Schußwaffe und Ausübung der tatsächlichen Gewalt über diese zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, daß der Angeklagte im März 1990 seine erste Ehefrau, die sich von ihm trennen wollte, mit einem einige Wochen zuvor erworbenen Kleinkalibergewehr erschossen hatte.
2. Obwohl nach den Feststellungen unter Beachtung des § 66 Abs. 4 Satz 4 StGB die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht nur nach § 66 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB, sondern auch nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 und 2 StGB vorliegen, hat das Landgericht diese Maßregel nicht angeordnet, weil kein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB festzustellen sei. Es hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, daß es sich bei dem im Jahre 1986 begangenen Meineid, dem Tötungsdelikt vom März 1990 und den nunmehr abgeurteilten Sexualstraftaten um Taten handelt, die für einen Hang des Angeklagten zur Begehung von Straftaten exemplarisch sind (vgl. hierzu BGHSt 21, 263 ff.; 24, 153, 156; 24, 243, 244; BGH NStZ 1984, 309). Die diesem Ergebnis zugrundeliegende Bewertung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da sie wesentliche Umstände der Fallgestaltungen nicht berücksichtigt hat.
Nicht zu beanstanden ist allerdings der Ausgangspunkt des Landgerichts: Handelt es sich bei den Straftaten, die die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung begründen (sog. Symptomtaten), um solche ganz verschiedener Art, die überdies unterschiedliche Rechtsgüter verletzen, ist ihr Indizwert für einen verbrecherischen Hang des Täters besonders sorgfältig zu prüfen und zu begründen (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 10). So begegnet auch die Begründung, mit welcher die Strafkammer es abgelehnt hat, den im Jahre 1986 begangenen Meineid als symptomatisch für einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten anzusehen, keinen rechtlichen Bedenken. Eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB scheidet deshalb aus (vgl. BGHSt 21, 263, 265). Bei seiner weiteren Prüfung hat das Landgericht allerdings maßgeblich darauf abgestellt, daß es sich bei dem Tötungsdelikt und den sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf seine Stieftochter um auf einzigartigen und besonderen Lebensumständen beruhende Taten gehandelt habe; die Sexualdelikte seien überdies unter Ausnutzung einer "Fülle günstiger Umstände" begangen worden. Eine Sexualperversion liege beim Angeklagten nicht vor. Die Strafkammer hat sich hingegen nicht erkennbar damit auseinandergesetzt, daß diese Straftaten, die als Symptomtaten für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB in Betracht kommen, nach den getroffenen Feststellungen auf einer fest eingewurzelten Neigung des Angeklagten (vgl. BGHR aaO Hang 4 und 8), im Rahmen einer Beziehung schwere Straftaten zum Nachteil der jeweiligen Partnerin zu begehen, beruhen können.
Nach den Ausführungen des Sachverständigen besteht bei dem asthenischen und narzißtisch veranlagten Angeklagten eine dauerhafte, erhebliche, gleichwohl dessen Schuldfähigkeit in den vorliegenden Fällen nicht erheblich beeinträchtigende Persönlichkeitsstörung, die zu einer Unfähigkeit, (eheliche) Beziehungen angemessen zu kontrollieren, geführt habe. Er könne sich aus Beziehungen, selbst wenn sie gescheitert seien, nicht lösen, sondern neige dazu, in seiner Eifersucht Besitz über die jeweilige Partnerin zu ergreifen. Es bestehe die Gefahr, daß der Angeklagte, falls er sich eine neue Partnerin suche, auch künftig versuchen werde, eine aufgrund seiner mangelnden Bindungsfähigkeit gescheiterte Beziehung aufrecht zu erhalten und dabei aufgrund seines Narzißmus und seiner Neigung zur Besitzergreifung straffällig zu werden (UA 71 und 88). Diese abnorme charakterliche Neigung des Angeklagten war sowohl bei dem Tötungsdelikt als auch bei den Sexualstraftaten wesentliche Ursache für deren Begehung. So kam es zu der über mehrere Wochen hinweg geplanten Tötung seiner ersten Ehefrau, als der Angeklagte erkannt hatte, daß der ihn "völlig beherrschende Wunsch, sie zurückzugewinnen, endgültig gescheitert war". Diese Straftat war nach den Feststellungen auch von dem Gedanken getragen, die Ehefrau zu bestrafen. Die vom Landgericht abgeurteilten Sexualdelikte hat der Angeklagte begangen, weil er die Geschädigte mehr und mehr an Stelle seiner Ehefrau als feste und dauerhafte Partnerin betrachtete, auf die er auch sein Sexualleben verlagerte. Er entwickelte, wie in der Beziehung zu seiner ersten Ehefrau, eine derartige Eifersucht auf die Geschädigte, "die er möglichst allein für sich besitzen wollte", daß er sie überwachte, um zu verhindern, daß sie Beziehungen zu anderen Jungen aufnehmen konnte. So hörte er etwa ihr Telefon ab, las ihre Tagebücher, folgte ihr heimlich ins Schwimmbad und vernachlässigte schließlich sogar seine Arbeit, um zu Hause mit seiner Stieftochter zusammen sein zu können. Auch nachdem seine Ehefrau mit ihren Kindern Mitte Juni 2001 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, verfolgte der Angeklagte sein Ansinnen, die Geschädigte zur Rückkehr zu bewegen, hartnäckig weiter. Gerade in diesem Zusammenhang gewinnt schon für die Beurteilung eines Hanges im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB der zweifache Erwerb einer Waffe, die sich der Angeklagte jeweils in einer angespannten Trennungssituation verschaffte, und die er im vorliegenden Fall auch nach Aufgabe seiner - nach Auffassung des Landgerichts als unwiderlegt erachteten - Selbstmordabsicht jederzeit greifbar in seinem Besitz behielt, an Bedeutung.
Der Senat kann nicht ausschließen, daß das Landgericht Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB angeordnet hätte, wenn es sich mit diesen Umständen auseinandergesetzt hätte. Einer Gefährdung der Allgemeinheit im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB stünde nicht entgegen, daß von der naheliegenden Gefahr erheblicher Übergriffe in erster Linie Menschen im sozialen Nahbereich des Angeklagten betroffen wären (vgl. BGHR aaO Gefährlichkeit 2). Deshalb verliert auch der Umstand, daß der Angeklagte noch kurz vor seiner Festnahme eine neue Beziehung anstrebte - worauf die Strafkammer wesentlich abgestellt hat - an Gewicht, zumal dies ersichtlich nicht Ausdruck der Bewältigung seiner partnerschaftlichen Probleme war, sondern darauf beruhte, daß er "große Angst vor dem Alleinsein" hatte.
Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs des Angeklagten. Der Senat kann hier nicht ausschließen, daß das Landgericht auf andere Strafen erkannt hätte, hätte es auch die Sicherungsverwahrung angeordnet. Sollte der neue Tatrichter nicht hinreichend sicher die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB feststellen können, wird er, da jedenfalls auch die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB vorliegen, Gelegenheit haben zu prüfen, ob gemäß § 66 a Abs. 1 StGB (BGBl 2002 I 3344) i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorzubehalten ist.
Für die erneute Prüfung der Frage, ob der Angeklagte infolge eines Hanges für die Allgemeinheit gefährlich ist, wird es sich empfehlen, einen weiteren psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen.
Bearbeiter: Karsten Gaede