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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 153/99, Beschluss v. 05.05.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 153/99 - Beschluß v. 05. Mai 1999 (LG Oldenburg)

Gebot der Konkretisierung und Individualisierung bei der Anklageschrift

§ 200 Abs. 1 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 16. November 1998 mit den Feststellungen aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in 85 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen. Er beanstandet mit seiner Revision das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts.

Das Rechtsmittel hat aufgrund der Sachrüge Erfolg. Auf die nur unzureichend ausgeführte Verfahrensbeschwerde kommt es nicht an.

Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung hat ergeben, daß es mangels ausreichender Konkretisierung und Individualisierung der Tatvorwürfe an der Verfahrensvoraussetzung wirksamer Anklageerhebung und demzufolge auch an einem wirksamen Eröffnungsbeschluß fehlt.

Dem Angeklagten wird in der Anklage zum Vorwurf gemacht, sich in 105 Fällen mit Gewalt und unter Drohungen an seiner im Tatzeitraum 18 bis 22 Jahre alten Tochter Suna vergangen zu haben. Indes werden die angelasteten Taten weder im Anklagesatz noch im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen so beschrieben, daß sich daraus eine hinreichend konkrete Umgrenzung des Verfahrensstoffs ergibt. Die Anklageschrift läßt die Schilderung auch bloß eines konkreten, individualisierbaren Einzelfalls vermissen; über eine allgemein gehaltene zusammenfassende Beschreibung geübter Sexualpraktiken geht sie nicht hinaus (vgl. dazu BGHR StPO § 200 1 1 Tat 7 und 18). Soweit es die eingesetzten Zwangsmittel angeht, ist die Anklageschrift noch allgemeiner gehalten. Angaben zur Häufigkeit des sexuellen Mißbrauchs, die die Annahme von 105 Taten nachvollziehbar machen würden, fehlen im Anklagesatz und im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ebenfalls.

Damit wird die Anklage der für ihre Wirksamkeit entscheidenden Funktion nicht gerecht, den Verfahrensgegenstand so zu bezeichnen, daß die Identität der den Anklagevorwürfen zugrunde liegenden geschichtlichen Vorgänge in einer Weise klargestellt wird, die eine individualisierende Unterscheidung von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Täters ermöglicht (vgl. BGHR StPO § 200 1 1 Tat 18 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). Welche Anforderungen zur Wahrung dieser Umgrenzungsfunktion der Anklage im einzelnen Verfahren erfüllt werden müssen, ist bei sog. Serienstraftaten, um die es hier geht, einer generellen Festlegung nur in begrenztem Umfang zugänglich. Vielmehr bestimmen die besonderen Umstände des Einzelfalls die Konkretisierungsanforderungen maßgeblich mit. So kann sich schon aus der besonderen rechtlichen Ausgestaltung eines Deliktstatbestands ergeben, daß erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Nicht nur für die Urteilsfeststellungen, sondern - in allerdings abgeschwächtem Maße - auch für die Anklage gilt, daß etwa bei Tatbeständen des Sexualstrafrechts, die wie im vorliegenden Fall neben der Vornahme sexueller Handlungen Nötigungselemente enthalten, zur Beurteilung, ob und in welcher Anzahl nach diesen Deliktstatbeständen strafbares und zu individualisierendes Verhalten vorliegt, eingehendere Angaben zur Tatkonkretisierung notwendig sind als bei einem Tatbestand, dessen Verwirklichung sich in der Vornahme sexueller Handlungen an bestimmten geschützten Personen erschöpft (vgl. zu den Anforderungen an die Urteilsfeststellungen in diesen Fällen: BGHSt 42, 107). In Fällen langjährigen, gleichartigen sexuellen Mißbrauchs von Kindern innerhalb einer Familie mit den bekannten Schwierigkeiten kindlicher Zeugen, länger zurückliegende Taten zeitlich einzuordnen und genauere Angaben zur Häufigkeit der Tatbegehungen zu machen, erscheint es demgegenüber geboten, diesen Besonderheiten unter Wahrung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angeschuldigten dadurch Rechnung zu tragen, daß bei den Konkretisierungsanforderungen an die Anklage ein großzügigerer Maßstab angelegt wird. Maßgeblich kann letztlich auch sein, ob die Anklage gegen einen geständigen, teilgeständigen oder gegen einen jeden Schuldvorwurf bestreitenden Angeschuldigten erhoben wird (BGHR StPO § 200 11 Tat 18).

Im zu entscheidenden Fall sind keine zureichenden Gründe gegeben, die Konkretisierungsanforderungen an die Anklage abzuschwächen. Betroffen von den Taten und wichtigste Belastungszeugin ist eine junge Frau, die bereits im Tatzeitraum 18 bis 22 Jahre alt war. Sie ist zwar in muslimischer Familientradition aufgewachsen. Sie hat jedoch sowohl ihre schulische als auch ihre berufliche Ausbildung in Deutschland erfolgreich durchlaufen. Von ihr sind so weit ins einzelne gehende Angaben zu den Taten zu erwarten, daß eine nähere Konkretisierung der Anklage möglich gewesen wäre, zumal jedenfalls die zuletzt begangenen Taten noch nicht lange zurückliegen. Ein Blick in die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, deren Verwertung dem Senat im Rahmen des zu den Verfahrensvoraussetzungen zulässigen Freibeweisverfahrens offen steht, bestätigt diese Annahme. Die polizeilichen Angaben der Zeugin und Nebenklägerin Suna M. boten genügend Ansatzpunkte für eine weitergehende Konkretisierung der zum Vorwurf gemachten Taten in der Anklage. Hinzu kommt, daß der Angeklagte von Anfang an nicht geständig, die Beweislage von daher nicht einfach war und deshalb dem Gebot, die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten nicht unangemessen durch vage, unbestimmte Tatvorwürfe zu beschränken, erhöhte Bedeutung beigemessen werden mußte.

Die die Unwirksamkeit der Anklage begründenden Mängel konnten im weiteren gerichtlichen Verfahren nicht geheilt werden und zwingen zur Verfahrenseinstellung. Sie haben sich im übrigen auf das Urteil auch insofern ausgewirkt, als die Urteilsfeststellungen, was die angenommene Tathäufigkeit angeht, selbst nicht den Grundsätzen über die Konkretisierung von Einzeltaten voll gerecht werden, die der Senat in seiner Vergewaltigungen betreffenden, aber für Taten der vorliegenden Art entsprechend geltenden Entscheidung in BGHSt 42, 107 aufgestellt hat (vgl. auch BGH StV 1999, 137; StV 1998, 472). Zwar wird die erste Tat eingehend geschildert, und einige Einzelheiten der späteren Tatbegehungen werden wiedergegeben. Diese Einzelheiten werden jedoch nicht konkreten Taten zugeordnet, obwohl sie zur Individualisierung weiterer Taten hätten genutzt werden können und sollen. So hätte beispielsweise die auf spätere Fälle bezogene Feststellung, bei heftiger werdender Abwehr der Tochter habe sich der Angeklagte auf sie gelegt, sie geschlagen und ihr an den Hals gegriffen, ausgereicht, eine (weitere) Tat in einer Weise, die die Tatbestandserfüllung zweifelsfrei ergibt, ausreichend konkret zu bezeichnen. Gleiches gilt für den Vorfall, als die Ehefrau des Angeklagten hinzukam. Auch der Umzug der Familie, die spätere gemeinsame Nutzung eines Schlafzimmers durch Suna M. und ihre Schwester, die Tatbegehung am Wochenende und zusätzlich in der Woche hätten als Orientierungspunkte für die Zeugin einen Ansatz geboten, diese Umstände zur Individualisierung von jeweils einer weiteren Tat zu verwerten. Ein solches Vorgehen ermöglicht eher die notwendige tatrichterliche Überzeugung von der Tatbestandsverwirklichung in jedem Einzelfall als ein nicht selten dem Vorwurf der Beliebigkeit ausgesetzes bloßes Herunterrechnen der Tatfrequenz, um offenbar vorhandenen Zweifeln an der Verläßlichkeit von allgemein gehaltenen Zeugenaussagen zur Tathäufigkeit ("fast jede Nacht", "an fast jedem Wochenende") Rechnung zu tragen. Jedenfalls bei komplex ausgestalteten Deliktstatbeständen wie dem der sexuellen Nötigung läßt eine solche der Schätzung gleichkommende Ermittlung der Zahl der Einzeltaten es nicht selten zweifelhaft erscheinen, ob der Tatrichter die Überzeugung von der Tatbestandsverwirklichung in allen Fällen wirklich erlangt hat (BGH StV 1999, 137; StV 1998, 492). Die Gefahr, daß die Einzeltat auf einen bloßen, auf die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr nachprüfbaren Rechnungsposten reduziert ist, wird sich häufig nicht vermeiden lassen. Eine mit dem Gerechtigkeitsempfinden in Einklang zu bringende Ahndung von in Serie begangenen Sexualstraftaten im Bereich von Familien kann, wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wiederholt zum Ausdruck gebracht worden ist, durchaus auch dann erreicht werden, wenn dem rechtsstaatlich begründeten Konkretisierungsgebot im Rahmen des Möglichen entsprochen wird.

Da die Anklage infolge ihrer zur Unwirksamkeit führenden Mängel keine Grundlage für eine Abgrenzung des Verfahrensstoffs bildete und damit eine Trennung zwischen nachweisbaren und nicht nachweisbaren Taten unmöglich gemacht ist, muß die Aufhebung des Urteils auch den deswegen unwirksamen Teilfreispruch erfassen.

Die Verfahrenseinstellung steht einer neuen, den verfahrensrechtlichen Anforderungen entsprechenden Anklage nicht entgegen (BGHR StPO § 200 I 1 Tat 13). Eine solche Anklage ist vielmehr geboten, und der Senat geht davon aus, daß sie ohne zeitliche Verzögerung erhoben wird. Eine Aufhebung des Haftbefehls durch den Senat ist nicht veranlaßt, weil die Voraussetzungen nach § 126 Abs. 3, § 120 Abs. 1 StPO nicht erfüllt sind. Die Verfahrenseinstellung hat ihrer sachlichen Bedeutung nach nur vorläufigen Charakter (vgl. BGHR StPO § 200 I 1 Tat 13 m.Nachw.).

Eine auch nur teilweise Belastung des Angeklagten mit den notwendigen Auslagen der Nebenklägerin im gerichtlichen Verfahren ist nicht möglich. § 471 Abs. 2 StPO ist nicht anwendbar; eine Verfahrenseinstellung, die nach gerichtlichem Ermessen zu beschließen wäre, liegt nicht vor.

Externe Fundstellen: NStZ 1999, 520; StV 2000, 6

Bearbeiter: Rocco Beck