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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 936

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 96/07, Urteil v. 09.08.2007, HRRS 2007 Nr. 936


BGH 3 StR 96/07 - Urteil vom 9. August 2007 (LG Kleve)

BGHSt 52, 24; Abgrenzung von Aussetzung und Unterbrechung; gesetzlicher Richter (Bestimmung durch richterliche Entscheidung; Willkür).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 222b StPO; § 228 StPO; § 229 Abs. 1 StPO; § 243 Abs. 1 StPO

Leitsätze

1. Sind in einer Hauptverhandlung noch keine Erträge erzielt worden, die bei einer Unterbrechung fortwirkten, bei einer Aussetzung aber erneut gewonnen werden müssten, ist das Gericht in der Entscheidung, ob es die Hauptverhandlung unterbricht oder sie aussetzt, grundsätzlich frei. (BGHSt)

2. Eine solche Unterbrechungs- oder Aussetzungsentscheidung verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 GG, es sei denn, sie wäre willkürlich getroffen. (BGHSt)

3. Soweit die Besetzung der Richterbank von richterlichen Entscheidungen abhängt, ist das Recht auf den gesetzlichen Richter nur dann verletzt, wenn die Grenze zur Willkür überschritten wird. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kleve vom 26. September 2006 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten, die im Übrigen offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO ist, gibt nur zu der Rüge, das Landgericht sei vorschriftswidrig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO i. V. m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Abs. 2 GVG), Anlass zu näherer Erörterung.

1. Der Beanstandung liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Zu dem auf den 15. August 2006 anberaumten Termin zur Hauptverhandlung erschien der Angeklagte nicht. Grund hierfür war, dass er sich am Vortag in stationäre Krankenhausbehandlung begeben hatte. Das Landgericht erörterte mit den Erschienenen zunächst den Erlass eines Haftbefehls. Anschließend holte es bei einigen der behandelnden Ärzte telefonisch Informationen zum Gesundheitszustand des Angeklagten sowie zu Notwendigkeit und Dauer seiner stationären Behandlung ein. Nachdem das Landgericht die Ergebnisse seiner Nachforschungen den Verfahrensbeteiligten bekannt gegeben hatte, bestimmte es durch Kammerbeschluss vom selben Tag Termin zur Hauptverhandlung "nunmehr" auf den 4. September 2006 und Fortsetzungstermine bis zum 21. September 2006. An diesen Tagen wurde die Hauptverhandlung dann auch durchgeführt. An ihr nahmen nicht die Schöffen aus dem Termin vom 15. August 2006 teil, sondern andere Schöffen aus der Hilfsschöffenliste.

Der Beschwerdeführer vertritt - wie bereits in seinem rechtzeitig angebrachten, von der Strafkammer zurückgewiesenen Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO - die Auffassung, die Schöffen aus dem Termin vom 15. August 2006 hätten auch weiterhin an der Hauptverhandlung teilnehmen müssen. Mit den neu eingetretenen Schöffen sei die Strafkammer vorschriftswidrig besetzt gewesen: Unabhängig von der Bezeichnung oder den Absichten der Kammer sei die Hauptverhandlung am 15. August 2006 nämlich nur unterbrochen, nicht aber ausgesetzt worden, weil der neue Termin innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO stattgefunden habe.

2. Auch diese Rüge ist unbegründet.

a) Allerdings scheitert sie entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht schon daran, dass am 15. August 2006 keine Hauptverhandlung stattgefunden habe. Durch den Aufruf der Sache hatte die Hauptverhandlung begonnen, § 243 Abs. 1 StPO. Dass der Angeklagte nicht erschienen war, ändert daran nichts. Soweit der Generalbundesanwalt darauf verweist, dass gemäß § 230 Abs. 1 StPO eine Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten nicht stattfinde - mit der Folge, dass die Vorschriften über die Aussetzung und Unterbrechung nicht anwendbar seien - trifft dies so nicht zu. § 230 Abs. 1 StPO beschreibt mit der Anwesenheit des Angeklagten nicht etwa eine begriffliche Voraussetzung der "Hauptverhandlung". Die Vorschrift bestimmt vielmehr, dass eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten - abgesehen von den in der Strafprozessordnung geregelten Ausnahmefällen - in seiner Abwesenheit nicht durchgeführt werden darf; wird sie es doch, so greift der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ein, was bei der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht möglich wäre.

b) Die Unbegründetheit der Rüge ergibt sich aber daraus, dass das Landgericht die Hauptverhandlung am 15. August 2006 - entgegen der Auffassung der Revision - nicht unterbrochen, sondern ausgesetzt hat und der Angeklagte durch die Entscheidung für die Aussetzung nicht seinem gesetzlichen Richter entzogen worden ist.

aa) Dass die mit dem Aufruf der Sache begonnene Hauptverhandlung vom 15. August 2006 am Ende dieses Termins ausgesetzt worden ist, folgt bereits aus der gewählten Formulierung, nach der nicht ein Termin zur Fortsetzung bestimmt, sondern die Hauptverhandlung "nunmehr" auf den 4. September 2006 anberaumt worden ist. Für eine Aussetzung spricht auch der Umstand, dass nicht allein der Vorsitzende den neuen Termin angeordnet hat, sondern die Strafkammer durch Beschluss. Nach § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO entscheidet das Gericht nämlich nur bei Aussetzungen und bei Unterbrechungen, die länger als drei Wochen dauern (vgl. § 228 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 229 Abs. 2 StPO); über eine kürzere Unterbrechung - wie sie hier vorläge, wenn nicht die Aussetzung angeordnet worden wäre - entscheidet dagegen der Vorsitzende allein. Schließlich belegt gerade auch die Heranziehung von anderen Schöffen zu der Hauptverhandlung vom 4. September 2006, dass das Gericht die Hauptverhandlung neu begonnen hat.

Der Annahme, dass das Landgericht die Hauptverhandlung ausgesetzt und nicht unterbrochen hat, steht nicht entgegen, dass der Beginn der neuen Hauptverhandlung in die Zeit vor Ablauf der Frist terminiert worden ist, bis zu der die Verhandlung nach § 229 Abs. 1 StPO zulässigerweise hätte unterbrochen werden können. Allerdings finden sich in Rechtsprechung und Literatur Aussagen, die dahin gedeutet werden könnten, dass die Frage, ob eine Aussetzung oder eine Unterbrechung vorliegt, allein von der tatsächlichen Dauer der Unterbrechung abhänge (vgl. BGH NJW 1982, 248; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl. § 228 Rdn. 1; Schlüchter in SK-StPO § 228 Rdn. 4; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 228 Rdn. 1; jew. m. w. N.), hingegen für die Abgrenzung nicht entscheidend sei, wie das Gericht die Maßnahme bezeichnet (BGH aaO) und was es beabsichtigt habe (Gollwitzer, aaO; Meyer-Goßner aaO). Diese Aussagen treffen indes in dieser Verallgemeinerung nicht zu und sind jedenfalls missverständlich:

(1) Das belegt zum einen schon der Blick auf die Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt 58, 357), auf die sie zurückgehen. In jener Sache hatte das Tatgericht die Hauptverhandlung (wörtlich) "ausgesetzt", sie aber gleichwohl mit einem Termin innerhalb der - damals wesentlich kürzeren, nämlich dreitägigen - Unterbrechungsfrist fortgesetzt. Das Reichsgericht entschied, dass trotz der Bezeichnung als "Aussetzung" nur eine Unterbrechung vorgelegen habe (vgl. RGSt 58, 357, 358); für die Frage, ob eine unterbrochene Verhandlung fortgesetzt werden dürfe oder erneuert werden müsse, komme es nach § 228 StPO lediglich auf die tatsächliche Dauer der Unterbrechung, nicht aber darauf an, ob bei dem Abbrechen der Verhandlung der Ausdruck Unterbrechung, Aussetzung oder Vertagung gebraucht werde und ob hierbei nur eine kürzere Unterbrechung oder eine Vertagung auf längere Zeit beabsichtigt sei. Betrachtet man diese Erwägungen des Reichsgerichts in ihrem Zusammenhang und vor dem Hintergrund des zu beurteilenden Sachverhalts, so wird deutlich, dass die Entscheidung letztlich nur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt: Dass nämlich für die Bestimmung der Bedeutung einer Prozesshandlung "der gegebenenfalls durch Auslegung zu ermittelnde Sinn, nicht das gesprochene Wort als solches" entscheidet, "so dass insbesondere die Wahl falscher technischer Ausdrücke ... unschädlich sein kann, wenn nur der Sinn des Erklärten klar ist" (Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl. Rdn. 206). Unter den gegebenen Umständen, insbesondere mit Blick darauf, dass innerhalb der nur dreitägigen Unterbrechungsfrist weiterverhandelt worden ist, bestand kein Zweifel daran, dass der Tatrichter - ungeachtet der technisch fehlerhaften Bezeichnung "Aussetzung" - die Hauptverhandlung lediglich unterbrochen hatte.

Auf derselben Linie liegt auch der Beschluss des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1981 (NJW 1982, 248). In dem zugrunde liegenden Fall hatte das Amtsgericht die Hauptverhandlung auf einen Termin innerhalb der damals 10-tägigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO "vertagt", den Angeklagten und seinen Verteidiger ohne Einhaltung der Ladungsfrist des § 217 StPO hierzu geladen und die Hauptverhandlung termingemäß fortgesetzt. Obwohl der Amtsrichter das Wort "vertagt" gebraucht habe, habe es sich, da die Frist des § 229 Abs. 1 StPO eingehalten worden sei, um eine Unterbrechung der Hauptverhandlung gehandelt, mit der Folge, dass es einer erneuten Einhaltung der Ladungsfrist nicht bedurft habe.

(2) Dass es verfehlt wäre, die Unterscheidung zwischen Unterbrechung und Aussetzung nach der Dauer bis zum neuen Termin vorzunehmen, zeigt sich zum anderen auch an den Fällen, in denen eine Aussetzung gesetzlich vorgeschrieben oder zugelassen ist (vgl. etwa § 217 Abs. 2, § 246 Abs. 2, § 265 Abs. 3 und 4 StPO). Wird in diesen Fällen die Hauptverhandlung ausgesetzt und die neue Hauptverhandlung innerhalb der (nach neuem Recht dreiwöchigen) Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO begonnen - was aus Gründen der Beschleunigung des Verfahrens geboten sein kann - , so wird aus der Aussetzung dadurch keine Unterbrechung; anderenfalls brauchte die in der ausgesetzten Hauptverhandlung durchgeführte Beweisaufnahme entgegen der gesetzgeberischen Zielsetzung in der neuen Verhandlung nicht wiederholt zu werden.

bb) Dass das Landgericht das Verfahren ausgesetzt und nicht unterbrochen hat, begegnet mit Blick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters keinen rechtlichen Bedenken.

(1) Die Entscheidung für die Aussetzung verstößt nicht gegen einschlägige Vorschriften oder allgemeine Grundsätze der Strafprozessordnung. Dies schließt auch einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 GG aus, der wegen ihrer Konsequenz für die Besetzung der Richterbank grundsätzlich in Betracht kommen würde.

Die Strafprozessordnung bestimmt zwar für eine Reihe von Fällen, dass die Hauptverhandlung mit der Folge, dass die schon durchgeführten Teile der Hauptverhandlung, insbesondere auch die Erhebung von Beweisen, wiederholt werden müssen, ausgesetzt werden muss oder kann. Ob und unter welchen Voraussetzungen sonst eine Hauptverhandlung, die innerhalb der Unterbrechungsfrist fortgesetzt werden könnte, ausgesetzt werden darf, regelt das Gesetz hingegen nicht. § 228 Abs. 1 StPO legt für die Aussetzung und die Unterbrechung lediglich die Anordnungskompetenz fest. Aussagen dazu, wann unterbrochen werden muss, wann ausgesetzt werden darf, hat es unter der Geltung der ursprünglichen Strafprozessordnung mit ihren kurzen Unterbrechungs- und längeren Ladungsfristen schon aus rein praktischen Gründen nicht bedurft. Solche Aussagen lassen sich auch nicht aus § 229 StPO ableiten. § 229 Abs. 4 StPO regelt lediglich, dass bei Überschreiten der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO bezeichneten Zeiträume das Verfahren neu begonnen werden muss, so dass bei Wahrung der Unterbrechungsfristen die Hauptverhandlung fortgesetzt werden kann. Damit stehen diese Vorschriften einer Aussetzung des Verfahrens auch aus anderen Gründen, als sie das Gesetz in speziellen Normen nennt, aber nicht entgegen.

Bei dieser Gesetzeslage kann über die Zulässigkeit der Aussetzung einer Hauptverhandlung mit einem Neubeginn innerhalb der Unterbrechungsfrist nur mit Blick auf die von ihr berührten allgemeinen Grundsätze des Strafverfahrensrechts entschieden werden. Einschlägig sind insbesondere der Beschleunigungsgrundsatz und die Konzentrationsmaxime. Es bedarf hier keiner allgemeinen Erwägungen dazu, unter welchen Voraussetzungen nach diesen Prinzipien die Aussetzung einer Hauptverhandlung und ihr Neubeginn innerhalb der Unterbrechungsfrist zulässig ist. Jedenfalls dann, wenn wie hier in der Hauptverhandlung lediglich die Gründe für die Abwesenheit des Angeklagten erörtert worden sind und wegen seiner Abwesenheit nicht einmal die Anklage verlesen worden ist - allgemeiner gewendet: wenn in der Hauptverhandlung noch keine Erträge erzielt worden sind, die bei einer Unterbrechung fortwirkten, bei einer Aussetzung aber erneut gewonnen werden müssten - ist das Gericht in der Entscheidung, ob es die Hauptverhandlung unterbricht oder sie aussetzt, grundsätzlich frei.

(2) Richtig ist allerdings, dass in Fällen dieser Art durch die Entscheidung für die Aussetzung des Verfahrens oder seine Unterbrechung auch das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 GG berührt wird. Es versteht sich, dass das Gericht nicht durch seine Entscheidung für die Aussetzung oder die Unterbrechung bewusst auf die Besetzung Einfluss nehmen darf. Anhaltspunkte für ein willkürliches Vorgehen des Landgerichts sind indes nicht ersichtlich und werden auch von der Revision nicht geltend gemacht. Der Beschwerdeführer meint allerdings, dass schon die Freiheit des Gerichts, sich für die Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung zu entscheiden - wegen ihrer Folgen für die Besetzung der Richterbank, insbesondere mit den Schöffen - sich mit den strengen Anforderungen, die das Prinzip des gesetzlichen Richters aufstellt, nicht verträgt. Dabei verkennt er, dass - soweit die Besetzung der Richterbank von richterlichen Entscheidungen abhängt - das Recht auf den gesetzlichen Richter nur dann verletzt ist, wenn die Grenze zur Willkür überschritten wird (vgl. auch Eschelbach in KMR 42. ErgLfg. § 228 Rdn. 3). Zugleich misst die Revision diesem Grundsatz des gesetzlichen Richters eine Wirkkraft bei, die er nicht haben kann. Dieselbe Richterbank wie die, die in der vorliegenden Sache das Urteil gesprochen hat, hätte entschieden, wenn der Vorsitzende die Sache am 15. August 2006 nicht aufgerufen hätte; umgekehrt wären die in jenem Termin anwesenden Richter dem Beschwerdeführer auch nicht erhalten geblieben, wenn die Aussetzung beschlossen und der neue Termin nicht auf den 4. September, sondern auf den 7. September 2006 anberaumt worden wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 936

Externe Fundstellen: BGHSt 52, 24; NJW 2007, 3364; NStZ 2008, 113; StV 2008, 9

Bearbeiter: Ulf Buermeyer