HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 526
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 429/05, Beschluss v. 25.04.2006, HRRS 2006 Nr. 526
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 17. Juni 2005 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 12 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg.
1. Näherer Erörterung bedarf allein die Beanstandung, das gegen die Vorsitzende gerichtete Ablehnungsgesuch sei mit Unrecht verworfen worden (§ 338 Nr. 3 StPO).
a) Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Nach den Schlussvorträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung machte die Vorsitzende eine Bemerkung zu dem Angeklagten, die sich auf den von der Staatsanwaltschaft zuvor gestellten Antrag bezog, zugleich mit der Verurteilung des Angeklagten den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Die Revision trägt hierzu vor, die Vorsitzende habe angekündigt, dass im Fall einer Verurteilung des Angeklagten auch der Haftbefehl sofort wieder in Vollzug gesetzt werde, und angeordnet, dass sich der Angeklagte deshalb während der Urteilsberatung "in der Nähe" aufzuhalten habe. Im Anschluss daran hatte der Angeklagte Gelegenheit zum letzten Wort. Während der darauf folgenden Urteilsberatung kündigte der Verteidiger einen Beweisantrag an und erreichte, dass die Kammer wieder in die Hauptverhandlung eintrat. Sodann stellte er einen Beweisantrag und lehnte zugleich für den Angeklagten die Vorsitzende im Hinblick auf deren Bemerkung wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Diesen Antrag verwarf die Kammer unter Mitwirkung der abgelehnten Richterin als unzulässig, weil ein Grund zur Ablehnung nicht angegeben worden sei (§ 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO). Sie begründete dies damit, dass in dem Gesuch die Äußerung der Vorsitzenden unzutreffend wiedergegeben worden sei; so, wie sie tatsächlich gefallen sei, gebe die Bemerkung hingegen einem vernünftigen Angeklagten keine Veranlassung, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Vorsitzenden zu hegen.
b) Die Rüge ist nicht begründet. Das Landgericht hat das Ablehnungsgesuch im Ergebnis zu Recht als unzulässig verworfen.
aa) Auf § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO durfte das Landgericht seine Entscheidung allerdings nicht stützen: Nach dieser Vorschrift hat das Gericht die Ablehnung eines Richters als unzulässig zu verwerfen, wenn - was hier nicht gegeben ist - ein Grund zur Ablehnung nicht angegeben wird. Dem Fehlen einer Begründung wird in ständiger Rechtsprechung - verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. BVerfG NJW 1995, 2912, 2913; 2005, 3410, 3412; BVerfG, Beschl. vom 24. Februar 2006 - 2 BvR 836/04 - der Fall gleichgestellt, dass die Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist (BGH NStZ 1999, 311; NStZ-RR 2002, 66; BGHR StPO § 26 a Unzulässigkeit 2, 3). Bei der Prüfung, ob die für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gegebene Begründung in dem genannten Sinne völlig ungeeignet ist, muss im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings ein strenger Maßstab angelegt werden (BGH StV 2005, 587 m. w. N.). Eine Begründung ist danach unter anderem dann nicht völlig ungeeignet, wenn der Richter zur Prüfung sein eigenes Verhalten beurteilen und somit eine Entscheidung in eigener Sache treffen muss. So liegt es hier. Denn der angegriffene Beschluss stellt bereits den Inhalt der beanstandeten Äußerung der abgelehnten Richterin abweichend dar, so dass diese gleichsam in eigener Sache den maßgeblichen Sachverhalt festgestellt hat.
bb) Das Landgericht hätte das Ablehnungsgesuch aber gemäß § 26 a Abs. 1 Nr. 1 StPO wegen Verspätung als unzulässig verwerfen müssen.
Die Ablehnung der Strafkammervorsitzenden war allerdings nicht schon deshalb verspätet, weil sie erst nach der erstmaligen Erteilung des letzten Wortes und damit dem in § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO bezeichneten Zeitpunkt, ab dem eine Ablehnung nicht mehr zulässig ist, angebracht worden war; denn dadurch, dass die Kammer erneut in die Beweisaufnahme eingetreten ist, haben die früheren Schlussvorträge und das frühere letzte Wort ihre bisherige Bedeutung verloren (vgl. BGHSt 20, 273, 275; BGH StV 1981, 221; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 258 Rdn. 27). Das gilt auch im Hinblick auf die Präklusionswirkung des § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO.
Das Ablehnungsgesuch ist aber nicht "unverzüglich" im Sinne des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO angebracht worden.
An die Auslegung des Begriffs "unverzüglich" im Sinne des § 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist im Interesse einer zügigen Durchführung des Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BGHSt 21, 334, 339; BGH NStZ 1993, 141; BGH StV 1995, 396). Die Ablehnung muss zwar nicht "sofort", aber "ohne schuldhaftes Verzögern", d. h. ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen geltend gemacht werden. Durch die Sachlage begründet ist eine Verzögerung, die dadurch entsteht, dass der Antragsteller, nachdem er Kenntnis vom Ablehnungsgrund erlangt hat, eine gewisse Zeit zum Überlegen und zum Abfassen des Gesuchs benötigt. Welche Zeitspanne dafür zuzubilligen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der jeweiligen Prozesssituation ab (vgl. BGHSt 45, 312, 315).
Hier erfolgte die vom Angeklagten beanstandete Äußerung der Vorsitzenden, nachdem bereits die Schlussvorträge gehalten worden waren und nur noch das letzte Wort des Angeklagten ausstand. Das Verfahren befand sich damit bereits unmittelbar vor dem Zeitpunkt, ab welchem eine Ablehnung nach der gesetzgeberischen Entscheidung in § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO (zur Verfassungsmäßigkeit dieser zeitlichen Zäsur vgl. BVerfG NJW 1988, 477) grundsätzlich überhaupt nicht mehr möglich ist. In diesem Verfahrensstadium handelt der Angeklagte nur noch dann "unverzüglich" i. S. v. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO, wenn er seine Entschließung über die Ablehnung trifft und ggf. die Ablehnung erklärt, bevor er von dem Recht zum letzten Wort Gebrauch macht oder darauf verzichtet. Das bedeutet nicht, dass er die Ablehnung sofort erklären muss. Dem Angeklagten ist auch in dieser Situation eine angemessene Zeitspanne zum Überlegen und zur Beratung mit seinem Verteidiger einzuräumen. Erforderlich und zumutbar ist es aber, dass der Angeklagte nunmehr zumindest eine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragt, um sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen und sich mit seinem Verteidiger zu beraten. Dies hat der Angeklagte vorliegend versäumt und sein Ablehnungsgesuch gegen die Strafkammervorsitzende somit nicht mehr unverzüglich i. S. v. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO angebracht.
An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass das Landgericht später wieder in die Hauptverhandlung eingetreten ist. Denn zu diesem Zeitpunkt war die "Frist" für eine unverzügliche Anbringung des Ablehnungsgesuchs bereits abgelaufen.
cc) Da das Landgericht das Gesuch im Ergebnis - allerdings aus einem anderen Grund als geschehen - als unzulässig hätte verwerfen müssen, kann die Revisionsrüge keinen Erfolg haben. An einem Austausch des Verwerfungsgrundes innerhalb des § 26 a Abs. 1 StPO ist das Revisionsgericht nicht gehindert (vgl. BVerfG, Beschl. vom 24. Februar 2006 - 2 BvR 836/04 Rdn. 64). Den Grundsatz des gesetzlichen Richters hätte das Landgericht unter den gegebenen Umständen allenfalls dann verletzt, wenn es das verspätet angebrachte Ablehnungsgesuch in anderer Besetzung der Strafkammer - ohne Mitwirkung der abgelehnten Richterin - verworfen hätte. Dementsprechend stellt sich hier auch weder die Frage, ob das Landgericht mit seiner Entscheidung den von § 26 a StPO gesteckten Rahmen "willkürlich" überschritten hat, mit der Folge, dass allein deshalb eine Entscheidung des Revisionsgerichts über die Begründetheit des Ablehnungsgesuchs nach Beschwerdegrundsätzen ausgeschlossen wäre (vgl. hierzu BVerfG NJW 2005, 3410, 3412), noch die, ob neben einer "willkürlichen Überschreitung" überhaupt noch ein Bereich schlicht rechtsfehlerhafter Beurteilung des Rahmens von § 26 a Abs. 1 StPO durch den Tatrichter denkbar ist, bei dem Raum für eine Entscheidung des Revisionsgerichts nach Beschwerdegrundsätzen bleibt (so BGH StV 2005, 587; möglicherweise anders - Willkür schon bei jeder vom Wortlaut des § 26a Abs. 1 StPO nicht gedeckten Ablehnung - BVerfG, Beschl. vom 24. Februar 2006 - 2 BvR 836/04 Rdn. 50 und 56).
2. Im Übrigen merkt der Senat an, dass das Vorgehen der Verteidigung am letzten Tag der achttägigen Hauptverhandlung durchaus Anlass gibt, die vom Generalbundesanwalt festgestellte Verschleppungsabsicht in Erwägung zu ziehen. Der Verteidiger hat die Unterbrechung der Urteilsberatung der Kammer und den Wiedereintritt in die Hauptverhandlung mit der durch Telefax übermittelten Ankündigung, "weitere Beweisanträge" stellen zu wollen, erreicht. Sodann hat er beantragt, seinen Mitverteidiger Rechtsanwalt Dr. J. aus K. als Zeugen zu vernehmen; dieser werde bekunden, er habe dem Angeklagten am ersten Verhandlungstag geschildert, dass der Staatsanwalt "ein konsensuales Vorgehen angeregt" und für diesen Fall einen Strafantrag zwischen zwei und drei Jahren angekündigt habe, und ihm weiter mitgeteilt, dass nach seiner Einschätzung (der des Mitverteidigers) für den Fall streitiger Verhandlung mit einem Strafantrag der Staatsanwaltschaft von mindestens fünf Jahren, unter Umständen sogar von sechs bis sieben Jahren, zu rechnen sei. Dieser Beweisantrag, der jede Begründung für die Erheblichkeit der behaupteten, offensichtlich bedeutungslosen Tatsachen schuldig bleibt, lässt - zumal unter Berücksichtigung des gleichzeitigen, ebenfalls erkennbar unbegründeten Ablehnungsgesuchs und der Umstände der Anbringung beider Anträge - die Annahme einer Verschleppungsabsicht nicht fern liegend erscheinen und besorgen, dass ihm ein Verständnis von Verteidigung zugrunde liegt, die sich dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühlt (vgl. BGH NStZ 2005, 341).
[Redaktioneller Hinweis: Vgl. zur jüngst geänderten Rechtsprechung auch Meyer-Goßner NStZ 2006, 53 und Gaede HRRS 2005, 319.]
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 526
Externe Fundstellen: NStZ 2006, 644; StV 2007, 118
Bearbeiter: Ulf Buermeyer