Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 449/94, Urteil v. 02.11.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 5. April 1994 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Einbeziehung einer durch rechtskräftigen Strafbefehl erkannten Geldstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und die Einziehung der Tatwaffe, eines Messers, angeordnet. Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf die Sachrüge gestützten Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat festgestellt:
Nach einer tätlichen Auseinandersetzung des Angeklagten mit seinem Bruder F. in der Wohnung der Zeugin H. forderte dieser den Angeklagten auf, "daß er verschwinden solle, woraufhin der Angeklagte die Wohnung verließ. Als der F. kurze Zeit später bemerkte, daß der Angeklagte seine Tasche vergessen hatte, nahm er diese und trug sie hinaus auf den Hof. Der Angeklagte, der gerade über den Hof ging, drehte sich um, ging auf den F. zu und stach diesen zweimal mit einem von ihm mitgeführten Springmesser, welches offen in seiner Gesäßtasche steckte, in den Oberbauch, wobei er billigend in Kauf nahm, daß sein Bruder dadurch getötet werden könnte. Nachdem der Angeklagte die Stiche geführt hatte, machte er sich jedoch keine Vorstellung darüber, ob die Stiche tatsächlich zum Tode führen würden.
Der F. konnte sich nach den Stichen noch ins Haus begeben, wo er vor der Wohnungstür des Zeugen B. im zweiten Stockwerk zusammenbrach. Auf welche Weise der F. ins Haus gelangte, konnte nicht mehr geklärt werden. Fest steht, daß er dies ohne fremde Hilfe tat" (UA S. 5).
Durch die Stiche hatte F. lebensbedrohliche Verletzungen an Leber und Magen erlitten. Er konnte gerettet werden.
Nach Auffassung des Landgerichts ist diese Tat (nur) als gefährliche Körperverletzung zu werten, eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags scheide aus. Zwar habe der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, er sei aber vom Tötungsversuch gemäß § 24 StGB strafbefreiend zurückgetreten. Zu Gunsten des Angeklagten müsse von einem unbeendeten Tötungsversuch ausgegangen werden, weil sich der Angeklagte nach Ausführung der Stiche überhaupt keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns gemacht habe. Er habe die weitere Ausführung der Tat aufgegeben, indem er freiwillig nicht weiter auf das Tatopfer eingestochen habe, obwohl ihm dies noch möglich gewesen wäre.
Die Wertung des Landgerichts, es habe ein unbeendeter Versuch vorgelegen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Macht ein Täter sich nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns, so ist ein beendeter Versuch anzunehmen.
In diesem Falle rechnet der Täter sowohl mit der Möglichkeit, daß der angestrebte oder in Kauf genommene Erfolg eintritt, als auch damit, daß er ausbleibt. Hält der Täter aber den Erfolgseintritt für möglich, so liegt ein beendeter Versuch vor, und der Täter kann Straffreiheit nur erlangen, wenn er zur Verhinderung der Tatvollendung handelt. Er hat die Gefahr geschaffen und muß sie beseitigen.
Würde man hier darauf abstellen, daß der Gleichgültige auch den Nichteintritt des Taterfolges für möglich hält - und deshalb einen unbeendeten Versuch annehmen, von dem durch freiwilliges Abstandnehmen von weiteren Ausführungshandlungen strafbefreiend zurückgetreten werden könnte -, so käme der Täter in den Genuß der Straffreiheit, obwohl er keine Distanzierung von der drohenden Rechtsgutverletzung, geschweige denn eine innere Umkehr, erkennen läßt. Das stünde mit der dem § 24 StGB zugrundeliegenden Wertentscheidung nicht im Einklang.
Schließlich verdient der Leichtfertige, Gleichgültige, welcher sich nach der Tat vom Opfer abwendet und es seinem Schicksal überläßt, auch kein Privileg gegenüber dem Bedächtigen, der sich Gedanken über die Folgen seines Tuns macht, die Gefahr für sein Opfer erkennt und nur durch erfolgsverhinderndes Handeln Straffreiheit erlangen kann.
Die hier vertretene Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Annahme von bedingtem Vorsatz bei einem Täter, dem bei seiner Tat der Erfolgseintritt gleichgültig ist. Ein solcher Täter handelt vorsätzlich, weil er mit jeder eintretenden Möglichkeit einverstanden ist (BGH NJW 1960, 1821, 1822; vgl. ferner RGSt 75, 127; Schroeder in LK 11. Aufl. § 16 Rdn. 93; Cramer in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 15 Rdn. 84; Roxin AT § 12 I Rdn. 30).
Das angefochtene Urteil war demgemäß aufzuheben.
Externe Fundstellen: BGHSt 40, 304; NJW 1995, 974; NStZ 1995, 121; NStZ 1995, 403; StV 1995, 296
Bearbeiter: Karsten Gaede