HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 244
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 456/10, Beschluss v. 22.12.2010, HRRS 2011 Nr. 244
Der Senat stimmt der Rechtsansicht des anfragenden 5. Strafsenats zu.
Der 5. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden: Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergibt sich für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB.
Er hat daher bei dem 4. Strafsenat angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, bei den anderen Strafsenaten, ob dieser Rechtsauffassung zugestimmt wird.
Der 2. Strafsenat folgt der Rechtsauffassung des anfragenden Senats.
Der beabsichtigten Entscheidung steht, soweit ersichtlich, auch keine Rechtsprechung des Senats entgegen.
1. Alle staatlichen Organe der Vertragsstaaten sind verpflichtet, die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfahrenen Ausformung zu beachten. Da die Fachgerichte innerhalb der staatlichen Kompetenzordnung als Teil der rechtsprechenden Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind und die Konvention im Range eines Bundesgesetzes steht, ist der entsprechende Spielraum der Fachgerichte durch diese Rangzuweisung dahingehend begrenzt, dass sie die Konvention wie anderes Bundesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung der bundesdeutschen Gesetze zu beachten und anzuwenden haben (BVerfGE 111, 307, 317, 323). Aus Gründen der Gesetzesbindung muss daher eine konventionsfreundliche Auslegung dort enden, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird und eine Auslegung im Sinne der Konvention gegen Wortlaut oder Regelungszweck der Norm erfolgen müsste.
2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze lässt allein der Wortlaut des § 2 Abs. 6 StGB eine konventionsfreundliche Auslegung dahingehend zu, Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Ausformung, die er durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25) erfahren hat, als eine "andere gesetzliche Bestimmung" im Sinne dieser Norm zu verstehen. Allerdings hat der nationale Gesetzgeber selbst - worauf der anfragende Strafsenat hinweist - Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK nicht als Ausnahmevorschrift im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB verstanden, sondern als Prüfungsmaßstab zur Frage der Vereinbarkeit des § 2 Abs. 6 StGB mit der Konvention herangezogen. Durch die Wendung "wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt" wollte er letztlich nur darauf hinweisen, dass auch im Maßregelrecht auf besondere Regelungen zu achten sei, die die Anwendung von Tatzeitrecht bestimmen.
Einer Auslegung des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK (wie auch des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK) als Ausnahmevorschrift im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB mit der Folge, dass eine rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB nicht möglich wäre, würde indes der in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende eindeutige Wille des Reformgesetzgebers des Jahres 1998 entgegenstehen.
Dieser wollte mit Einführung des § 67d Abs. 3 StGB wie auch mit der späteren Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in § 66b StGB sicherstellen, dass die Sicherungsverwahrung dann, wenn die Gefährlichkeit eines Täters dies indiziert, auch über die Höchstfrist von zehn Jahren hinaus vollzogen bzw. auch noch nachträglich angeordnet werden kann. Der Gesetzgeber wollte eine Rückwirkung und hat deshalb in § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB keine Ausnahme für Altfälle geschaffen, d.h. es wurde an dieser Stelle gerade keine "besondere gesetzliche Bestimmung" im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB getroffen. Im Gegenteil bestimmte er in dem gleichzeitig eingeführten Art. 1a Abs. 3 EGStGB (i.d.F. vom 26.1.1998) ausdrücklich die rückwirkende Anwendung des neuen, eine Höchstfrist nicht mehr enthaltenden § 67d Abs. 3 StGB. Auch aus der Streichung dieser Bestimmung im Jahr 2004 kann nichts anderes hergeleitet werden, da diese dem Gesetzgeber vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5. und 10. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133 und 190) lediglich als verzichtbar erschien (BT-Drucks. 15/2887 S. 20).
Da im Rahmen methodisch sachgerechter Auslegung eine konventionsfreundliche Auslegung nicht möglich ist, muss das deutsche Recht in herkömmlicher Weise angewandt werden. Auch ein offenkundiger Konventionsverstoß gestattet es nicht, sich über den im Gesetz zum Ausdruck gebrachten eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegzusetzen; insoweit ist dessen alleinige Zuständigkeit für eine Änderung des Gesetzes im Rahmen der staatlichen Kompetenzordnung zu respektieren. Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber - aus welchen Gründen auch immer - von seiner Zuständigkeit keinen Gebrauch macht.
3. Da bei der Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB den Gerichten im Rahmen der auch bei nachträglichen Entscheidungen vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung (§ 62 StGB) ein Abwägungsspielraum eröffnet ist, müssen Art. 7 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 MRK an dieser Stelle insoweit Beachtung finden, als dies im Rahmen der staatlichen Kompetenzordnung methodisch und sachgerecht vertretbar erscheint. Bei einer konventionsfreundlichen Gesamtwürdigung streiten die Aspekte des Vertrauensschutzes und des Freiheitsrechts in gewichtigem Maße für den Verurteilten. Im Ergebnis werden - worauf der anfragende Strafsenat hinweist - grundsätzlich die Rechtspositionen des Verurteilten überwiegen. Wenn dies zu einer letztlich im Regelfall einschränkenden Auslegung des § 67d Abs. 3 StGB dergestalt führt, dass nur im Falle des Vorliegens einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen der weitere Vollzug auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention verhältnismäßig erscheint, steht dies insbesondere dem Regelungszweck des § 67d Abs. 3 StGB nicht entgegen.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 244
Bearbeiter: Karsten Gaede