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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 494/99, Beschluss v. 07.12.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 494/99 - Beschluß v. 7. Dezember 1999 (LG München II)

Verlesung des Anklagesatzes; Verwerfung der Revision als unbegründet; Beweiswirkung des Sitzungsprotokolls

§ 243 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 349 Abs. 2 StPO; § 273 StPO; § 274 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 19. April 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 9. November 1999 ausgeführt:

"Die Revision dringt mit der Rüge durch, dass der Anklagesatz nicht verlesen worden sei (§ 243 Abs. 2 Satz 1 StPO). Nach dem Wortlaut der Sitzungsniederschrift vom 23. März 1999 hielt der Vorsitzende "Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens" und stellte fest, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München II vom 24. November 1998 mit Eröffnungsbeschluss vom 5. Februar 1999 zur Hauptverhandlung vor der 1. Strafkammer des Landgerichts München II zugelassen wurde (Bd. II S. 164 d.A.). Dagegen ist im Sitzungsprotokoll nicht vermerkt, dass die Staatsanwältin zuvor den Anklagesatz verlesen hat. Das Sitzungsprotokoll ist in diese in Punkt auch nicht lückenhaft, sondern eindeutig. Deshalb muss das Revisionsgericht davon ausgehen, dass die Verlesung des Anklagesatzes unterblieben ist. Denn die Verlesung des Anklagesatzes gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beobachtung das Protokoll ersichtlich machen muss (§ 273 StPO) und die nur durch das Protokoll bewiesen werden können (§ 274 StPO). Allerdings hat der Vorsitzende nach Anbringung der Verfahrensrüge erklärt, der Anklagesatz sei seiner Erinnerung nach doch verlesen worden (Bd. II Bl. 321 d.A.). Das ist jedoch unbeachtlich, weil dadurch einer bereits erhobenen Verfahrensrüge nachträglich der Boden entzogen würde (BGH NStZ 84, 521; 86, 39, 40).

Die Verlesung des Anklagesatzes ist ein so wesentliches Verfahrenserfordernis, dass die Unterlassung im Allgemeinen die Revision begründet. Der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes geht dahin, die Teilnehmer an der Hauptverhandlung mit dem Gegenstand der Verhandlung und mit den Grenzen, in denen sich diese und die Urteilsfindung zu bewegen haben, bekannt zu machen. Es sollen die mitwirkenden Richter darüber unterrichtet werden, auf welchen geschichtlichen Vorgang sich das Verfahren bezieht, und den Prozeßbeteiligten soll Gewissheit darüber vermittelt werden, auf weiche Tat sie ihr Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben. Deshalb kann das Beruhen nur in einfach gelagerten Fällen ausgeschlossen werden, in denen der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes durch die Unterlassung nicht beeinträchtigt worden ist (BGH NStZ 84, 521; 86, 39, 40 m.w.N.; 86, 374 m.w.N.). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier jedoch nicht vor. Dem Angeklagten wird in dem zwei Seiten umfassenden Anklagesatz ein Verbrechen der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt. Die Schilderung der Tat umfasst im Urteil fünf Seiten. In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte die Tat in vollem Umfang bestritten. Demgemäß enthält das Urteil eine eingehende Beweiswürdigung, die insgesamt 20 Seiten lang ist. Bei dieser Sachlage kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass diejenigen Richter, denen der Inhalt der Anklage unbekannt war, ihr Augenmerk während der Verhandlung von Anfang an auf die in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht wesentlichen Umstände richten konnten. Deshalb lässt sich nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (BGH NStZ 86, 39, 40 m. w. N.).

Da schon die Rüge der Nichtverlesung des Anklagesatzes durchgreift, bedarf es eines Eingehens auf die übrigen Verfahrensrügen und das sachlichrechtliche Vorbringen nicht."

Dem tritt der Senat bei.

Bearbeiter: Karsten Gaede