HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 838
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 288/05, Urteil v. 20.09.2005, HRRS 2005 Nr. 838
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 1. Dezember 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Der Angeklagte wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte am 5. Oktober 2003 T. so schwer verletzt, dass dieser am 15. Oktober 2003 verstorben ist. Mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen erstreben die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. Die auch vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben im Ergebnis Erfolg.
1. Folgendes ist festgestellt:
Um seine Aggressionen abzureagieren, versuchte der "in Schlägereien erfahrene" Angeklagte vergeblich, mit dem nie "durch Schlägereien ... aufgefallenen" T. grundlos in einem Lokal Streit anzufangen. Als T. später das Lokal verließ, traf er vor dem Lokal auf den Angeklagten, der ihn mit Faustschlägen niederschlug und ihn dann mehrfach äußerst wuchtig ins Gesicht trat. Anschließend schleifte der Angeklagte den besinnungslosen und aus Mund und Nase blutenden T. von dem erleuchteten Tatort in eine schlecht einsehbare Grünanlage in der Nähe, wo er ihn liegen ließ. Nach etwa 10 bis 15 Minuten wurde er dort aufgefunden, verstarb dann aber an den Folgen eines schweren Schädelhirntraumas ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Angesichts der Schwere seiner Verletzungen hätte ihm auch eine unmittelbar nach den Tritten einsetzende ärztliche Hilfe nichts geholfen.
2. Die Strafkammer konnte sich von der - nahe liegenden (vgl. nur BGH, Beschluss vom 28. Juni 2005 - 1 StR 178/05) - Möglichkeit eines auch nur bedingten Tötungsvorsatzes bei den Tritten nicht überzeugen und führt hinsichtlich des späteren Geschehens aus: "Ein vorsätzliches Tötungsdelikt kam auch nicht im Sinne einer Unterlassungstat für den Fall in Betracht, dass der Angeklagte ...., als er T. wegschleifte und dann liegen ließ, billigend in Kauf genommen hätte, dass dieser versterben würde, da ... das Leben des Verletzten ... nicht mehr zu retten war".
3. Damit hat die Strafkammer die Möglichkeit eines (auf der Grundlage ihrer Bewertung der Rettungschancen) untauglichen Versuchs eines Tötungsverbrechens nicht gesehen.
Anzumerken ist insoweit lediglich, dass nicht erkennbar ist, warum gegebenenfalls der Schwerpunkt des vorwerfbaren Verhaltens des Angeklagten nicht in aktivem Tun läge, wenn er T. (mit dem zumindest bedingten Vorsatz, dadurch seine Überlebenschancen zu zerstören) in die dunkle Anlage geschleift hat, wo nur eine geringere Rettungschance bestand.
4. Der aufgezeigte Mangel wäre für den Bestand des Urteils nur dann unschädlich, wenn die Feststellungen zweifelsfrei die Überzeugung der Strafkammer ergäben, dass der Angeklagte beim Wegschleifen T. s davon ausging, dass dieser bereits tot war. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie schon allein die genannten Ausführungen der Strafkammer im Rahmen ihrer rechtlichen Würdigung zeigen (vgl. oben 2 a. E.). Im Übrigen hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung keine Angaben gemacht, im Ermittlungsverfahren zunächst in unterschiedlichen Versionen jede Tatbeteiligung bestritten und zuletzt behauptet, T. habe ihn angegriffen. Im Rahmen seiner unterschiedlichen Schilderungen hatte der Angeklagte auch einzelne Angaben gemacht, die darauf hindeuten könnten, dass er T. bereits für tot hielt, als er ihn wegschleifte.
So hat er z. B. auf die Frage, ob es in der gegebenen Situation nicht "das normale Verhalten sei, ... Hilfe zu holen", damit beantwortet, "das sei doch nicht normal, denn wenn er den geschlagen habe und der tot sei, habe er besser nichts damit zu tun". Der Angeklagte hatte übrigens schon früher T. einmal grundlos von hinten niedergeschlagen und dies aber jahrelang ihm gegenüber abgeleugnet. Schließlich versteht sich auch nicht von selbst, dass T. keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab, als ihn der Angeklagte über den Boden schleifte.
Nach alledem können einzelne Äußerungen des Angeklagten im Ermittlungsverfahren, die die Strafkammer nicht ausdrücklich gewürdigt hat und die sie von ihrem Standpunkt nicht zu würdigen brauchte, nicht Grundlage für die Annahme sein, die Strafkammer sei - unbeschadet ihrer lückenhaften rechtlichen Ausführungen - davon überzeugt gewesen, dass der Angeklagte T. bereits für tot hielt, als er ihn fortschleifte.
5. Der aufgezeigte Mangel führt zur Aufhebung des gesamten Urteils.
Dies ergibt sich schon daraus, dass die von der Strafkammer letztlich verneinte Frage eines Tötungsvorsatzes bei den Tritten offenbar in anderem Licht erscheinen kann, wenn von einem Tötungsvorsatz beim Wegschleifen auszugehen wäre. Jedenfalls läge aber insgesamt die Annahme von Tateinheit (natürliche Handlungseinheit) nicht fern (vgl. generell zu Gewalttätigkeiten, die innerhalb eines dynamischen Geschehensablaufs ohne erkennbare Zäsur in einem Tötungsdelikt kulminieren, Schneider in MünchKomm § 211 Rdn. 180 ff.; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 211 Rdn. 12 jew. m. w. N.). Wird ein Urteil aufgehoben, weil eine möglicherweise gebotene Verurteilung wegen einer Tat unterblieben ist, die gegebenenfalls mit einer abgeurteilten Tat in Tateinheit stehen kann, kann das Urteil auch hinsichtlich der abgeurteilten Tat keinen Bestand haben (vgl. BGH bei Kusch NStZ-RR 1998, 257, 262 f.; Kuckein in KK 5. Aufl. § 353 Rdn. 16 jew. m. w. N.).
HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 838
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2006, 10
Bearbeiter: Karsten Gaede