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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 40/02, Urteil v. 16.05.2002, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 40/02 - Urteil vom 16. Mai 2002 (LG München I)

Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; verminderter Wert von Anschuldigungen des vermeintlichen Opfers außerhalb einer förmlichen Vernehmung und ohne Beteiligung der Verteidigung; Zeuge vom Hörensagen; Gesamtwürdigung; Freispruch); sexueller Missbrauch eines Kindes.

§ 261 StPO; § 176 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Sachlich-rechtliche Fehler können indessen vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist. Insbesondere muß die Beweiswürdigung erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist fehlerhaft. Schließlich dürfen die Anforderungen an eine Verurteilung nicht überspannt werden. Dabei ist zu beachten, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt. Der Zweifelssatz darf schließlich erst nach einer solchen erschöpfenden Würdigung des gesamten Beweisergebnisses zur Anwendung kommen. Das Ergebnis eines Glaubwürdigkeitsgutachtens kann den Richter bei der gebotenen umfassenden Bewertung der Indiztatsachen lediglich unterstützen (vgl. BGH NStZ 1999, 153; BGHR StPO § 261 Einlassung 5; Beweiswürdigung 16).

2. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof für unterschiedliche Fallgestaltungen, bei denen im Kern "Aussage gegen Aussage" steht, besondere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. So hat er etwa in Fällen, in denen die Aussage des einzigen Belastungszeugen in einem wesentlichen Detail als bewußt falsch anzusehen war, auf dessen Angaben jedoch die Verurteilung gestützt werden soll, verlangt, daß Indizien für deren Richtigkeit vorliegen müssen, die außerhalb der Aussage selbst liegen (vgl. BGHSt 44, 256, 257). Steht "Aussage gegen Aussage" und hängt die Entscheidung im wesentlichen davon ab, welchen Angaben das Tatgericht folgt, sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären. Das gilt vor allem dann, wenn ein Zusammenhang mit familiären Auseinandersetzungen nicht von vornherein auszuschließen ist (BGH NStZ 1999, 45; NStZ 2000, 496). Die Aussage eines "Zeugen vom Hörensagen" vermag für sich genommen ohne zusätzliche Indizien einen Schuldspruch nicht zu tragen (BGHSt 44, 153, 158).

3. Die Verurteilung des Angeklagten kann allein auf die Angaben des vermeintlichen Opfers gestützt werden, die dieses gegenüber Dritten gemacht und in ihren handschriftlichen Abschiedszeilen angesprochen hat. Allerdings sind hier strenge Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung zu stellen.

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 6. September 2001 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in 159 Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.

I. Die zugelassene Anklage legt dem Angeklagten zur Last, seine am 15. Juni 1974 geborene leibliche Tochter K. Kö. vornehmlich im elterlichen Haus in P. zwischen dem 30. Juni 1984, als K. 10 Jahre alt war, und dem 13. Geburtstag am 15. Juni 1987 wiederkehrend sexuell mißbraucht zu haben (Vergehen, strafbar nach § 176 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB aF). Zu den ersten sexuellen Übergriffen soll es bereits in K. Kö. s drittem oder viertem Lebensjahr und damit in verjährter Zeit im Saunabereich des Hauses beim samstäglichen gemeinsamen Duschen gekommen sein; K. Kö. mußte der Anklage zufolge dort dem Angeklagten den Penis bis zum Samenerguß mit dem Waschlappen abreiben. Ab dem sechsten Lebensjahr des Mädchens soll es schließlich einmal wöchentlich zum Oralverkehr gekommen sein. Im Alter von etwa sieben Jahren habe erstmals und in der Folgezeit dann regelmäßig Geschlechtsverkehr zwischen dem Angeklagten und seiner Tochter stattgefunden. Die sexuellen Übergriffe hätten geendet, als K. Kö. ihre erste Regelblutung hatte. Der letzte Vorfall habe sich im August 1988 während eines Urlaubs in Jugoslawien ereignet. Die Anklage geht weiter davon aus, daß K. Kö. aufgrund des Mißbrauchs später an einer erheblichen posttraumatischen Belastungsstörung litt, die sie veranlaßte, sich über Jahre hinweg psychotherapeutisch behandeln zu lassen.

K. Kö. tötete sich am 20. Dezember 1999 im Alter von 25 Jahren selbst. Sie stand deshalb schon im Ermittlungsverfahren nicht als Zeugin zur Verfügung. Die Anklage stützt sich im wesentlichen auf ihre Äußerungen gegenüber Freunden, Ärzten und Therapeuten sowie auf handschriftliche Abschiedszeilen, die sie hinterließ.

Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Die Strafkammer hat sich von seiner Täterschaft nicht zu überzeugen vermocht. Sie konnte nicht ausschließen, daß die Äußerungen K. Kö. s auf eine Gedächtnistäuschung zurückzuführen sind, derzufolge sie nur der Meinung war, mißbraucht worden zu sein. Die Äußerungen K. Kö. s können nach der Bewertung des Landgerichts ihre Erklärung u.a. auch in intensiver gedanklicher Befassung mit fiktiven Ereignissen und in bestätigenden Gesprächen finden; sie können sich nach dem Gutachten des aussagepsychologischen Sachverständigen, dem die Strafkammer unter weiterer Beratung durch einen jugendpsychiatrischen Sachverständigen folgt, auch "narzißtisches Mittel der Selbstdarstellung" und eine "therapieinduzierte Suggestion" gewesen sein. Im wesentlichen hebt die Strafkammer bei ihren Zweifeln an der Täterschaft des Angeklagten darauf ab, daß K. Kö. erstmals sieben Jahre nach dem Ende des behaupteten sexuellen Mißbrauchs ihrer Freundin davon erzählte, dies etwa ein weiteres Jahr später wiederholte und dann auch gegenüber ihrer Hausärztin, ihrer Frauenärztin und während zweier Klinikaufenthalte davon berichtete. Die Schilderungen hätten kaum Einzelheiten enthalten. Während der Tatzeitspanne seien weder in der Schule noch im Freundes- und Familienkreis Verhaltensauffälligkeiten beobachtet worden, wie sie bei mißbrauchten Kindern häufig vorlägen. Ihre Mutter und der im gemeinsamen Haushalt wohnende Bruder hätten trotz der Hellhörigkeit des Hauses und der Vielzahl der in Rede stehenden Fälle nie Verdacht geschöpft. K. Kö. habe weiter schon früh sexuelle Beziehungen zu Männern unterhalten. Probleme wie Abneigung, Ekel oder Frigidität seien dabei nicht aufgetreten. Einer ihrer als Zeugen vernommenen Liebhaber habe gar berichtet, daß sie mit Gewalt verbundene Sexualität als anregend empfunden habe. Schließlich habe sie trotz jahrelanger Psychotherapie bei der Diplompsychologin Dr. B. nie von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit berichtet. Auch bei einer Exploration in der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der psychiatrischen Klinik der Universität München durch Dr. Bu. Ende 1997 habe sie einen Mißbrauch nicht erwähnt. Im übrigen sei es gerade der Angeklagte gewesen, der im November 1997 darauf gedrungen habe, daß sie sich wegen ihrer ständigen Kopfschmerzen in der Universitätsklinik untersuchen lasse. Im Falle der Täterschaft habe dem Angeklagten als Arzt bewußt sein müssen, daß die Taten auf diese Weise offenbar werden könnten.

Die Zweifel der Kammer am objektiven Wahrheitsgehalt der Erzählungen K. Kö. s wurden verstärkt durch Gutachten zweier Sachverständiger. Der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. T. hat ausgeführt, die bei K. Kö. während zweier Klinikaufenthalte in den Jahren 1998 und 1999 gestellte Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung sei offensichtlich falsch. Ein Rückschluß von den bei ihr festgestellten Symptomen auf einen sexuellen Mißbrauch in der Kindheit sei nicht möglich. Man könne daran denken, daß K. Kö. der Eindruck, sie sei sexuell mißbraucht worden, "antherapiert" worden sei. Der aussagepsychologische Sachverständige Prof. Dr. F. vermochte auf der Grundlage des Aktenstudiums und der Teilnahme an der Hauptverhandlung die These, daß die Vorwürfe objektiv falsch seien, nicht auszuschließen. Die Möglichkeit einer falschen Beschuldigung existiere nicht nur, sondern müsse als substantiell angesehen werden. Unstimmigkeiten in den Aussagen, der Mangel an Details, jegliches Fehlen "unabhängiger Evidenz" und die Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie erzeugten erhebliche Zweifel. Die Strafkammer hat die Ausführungen der Sachverständigen für überzeugend und nachvollziehbar erachtet. Sie hatte aufgrund der Angaben der vernommenen Zeugen und der Gutachten der Sachverständigen so erhebliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten, daß sie diesen freigesprochen hat.

II. Die vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung des Angeklagten erstrebt, bleibt ohne Erfolg.

1. Die Aufklärungsrüge ist schon nicht in zulässiger Weise erhoben, überdies auch unbegründet.

Die Beschwerdeführerin meint, das Landgericht habe sich gedrängt sehen müssen, die Ärzte der Kliniken zu vernehmen, die bei K. Kö. die Eingangsuntersuchungen vorgenommen haben, als diese sich im Sommer 1998 zur stationären Behandlung in der Klinik in Bad W. (Indikationsgruppe für traumatisierte Frauen) und im Spätsommer 1999 in der psychosomatischen Abteilung der Klinik in Ka. (frauenspezifische Abteilung für posttraumatische Belastungsstörungen) befunden habe. Deren Vernehmung hätte ergeben, daß K. Kö. sehr wohl an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten habe. Die Strafkammer habe sich nicht mit der Vernehmung der behandelnden Therapeuten begnügen dürfen. Sie hätte sich zu der weiteren Beweiserhebung gedrängt sehen müssen, weil in den Strafakten die Befunde der Ärzte enthalten seien, welche die Eingangsuntersuchungen in den genannten Spezialkliniken für Opfer sexuellen Mißbrauchs vorgenommen hätten.

Die Rüge scheitert bereits daran, daß die Beschwerdeführerin die betreffenden Ärzte nicht namentlich benennt und vor allem die konkreten Befunde, die diese hätten bestätigen sollen, nicht mitteilt. Die Beschwerdeführerin geht überdies daran vorbei, daß das Landgericht in den Urteilsgründen die in den Kliniken gestellte Diagnose einer "posttraumatischen Belastungsstörung" ausdrücklich feststellt, sie indessen - wie der Zusammenhang der Beweiswürdigung ergibt - mit dem dazu gehörten kinder- und jugendpsychiatrischen Sachverständigen als "falsch" verwirft. Über die im einzelnen dazu getroffenen Feststellungen hinausgehende Einzelheiten, die geeignet wären, dieses Ergebnis konkret in Frage zu stellen, trägt die Revision nicht vor.

Bei dieser Sachlage liegt auf der Hand, daß sich der Strafkammer die von der Revision vermißte Vernehmung der Ärzte der Kliniken nicht aufdrängen mußte, nachdem sie die dort tätigen Therapeuten als Zeugen gehört hatte. Dem entspricht, daß auch in der Hauptverhandlung weder die Beschwerdeführerin noch ein anderer Verfahrensbeteiligter einen Grund gesehen haben, einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.

2. Die sorgfältige Beweiswürdigung der Strafkammer hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand. Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwände gehen fehl.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Deshalb hat es das Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Sachlich-rechtliche Fehler können indessen vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist. Insbesondere muß die Beweiswürdigung erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist fehlerhaft. Schließlich dürfen die Anforderungen an eine Verurteilung nicht überspannt werden. Dabei ist zu beachten, daß eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewißheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt. Der Zweifelssatz darf schließlich erst nach einer solchen erschöpfenden Würdigung des gesamten Beweisergebnisses zur Anwendung kommen. Das Ergebnis eines Glaubwürdigkeitsgutachtens kann den Richter bei der gebotenen umfassenden Bewertung der Indiztatsachen lediglich unterstützen (vgl. zu alldem nur BGH NStZ 1999, 153; BGHR StPO § 261 Einlassung 5; Beweiswürdigung 16, jew. m.w.Nachw.; siehe auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 261 Rdn. 26).

Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof für unterschiedliche Fallgestaltungen, bei denen im Kern "Aussage gegen Aussage" steht, besondere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. So hat er etwa in Fällen, in denen die Aussage des einzigen Belastungszeugen in einem wesentlichen Detail als bewußt falsch anzusehen war, auf dessen Angaben jedoch die Verurteilung gestützt werden soll, verlangt, daß Indizien für deren Richtigkeit vorliegen müssen, die außerhalb der Aussage selbst liegen (vgl. BGHSt 44, 256, 257). Steht "Aussage gegen Aussage" und hängt die Entscheidung im wesentlichen davon ab, welchen Angaben das Tatgericht folgt, sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären. Das gilt vor allem dann, wenn ein Zusammenhang mit familiären Auseinandersetzungen nicht von vornherein auszuschließen ist (BGH NStZ 1999, 45; NStZ 2000, 496). Die Aussage eines "Zeugen vom Hörensagen" vermag für sich genommen ohne zusätzliche Indizien einen Schuldspruch nicht zu tragen (BGHSt 44, 153, 158).

b) Der vorliegende Fall weist die Besonderheit auf, daß eine Verurteilung des Angeklagten letztlich allein auf die Angaben K. Kö. s zu stützen gewesen wäre, die diese gegenüber Dritten gemacht und in ihren handschriftlichen Abschiedszeilen angesprochen hat. K. Kö. stand indessen weder im Ermittlungsverfahren noch im Hauptverfahren als Zeugin zur Verfügung. Objektive Tatspuren oder sonst unmittelbare Beweismittel fehlen. All dies schließt zwar nicht von vornherein und von Rechts wegen aus, auch auf solcher Grundlage eine Überzeugung von der Täterschaft gewinnen zu können. Allerdings sind strenge Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung zu stellen. Das ergibt sich bereits daraus, daß der Tatrichter hier die Glaubwürdigkeit der unmittelbaren Beweisperson und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht originär, sondern nur vermittelt über Berichte anderer beurteilen kann. Eine Befragung gezielt im Blick auf die Tatvorwürfe war ebensowenig möglich wie eine etwaige Glaubwürdigkeitsbegutachtung. Nicht einmal im Ermittlungsverfahren konnte eine Vernehmung der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin konkret zu der gegen den Angeklagten erhobenen Beschuldigung erfolgen, deren Ziel es naheliegenderweise auch gewesen wäre, weitere Anhaltspunkte für eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts der strafrechtlich erheblichen Vorwürfe zu gewinnen. Das Fehlen jeglicher strafverfahrensbezogenen, mit einer Belehrung verbundenen und unter Wahrheitspflicht (vgl. §§ 153, 164 StGB) erfolgten Vernehmung K. Kö. s berührt die Tragfähigkeit der Tatsachengrundlage für eine etwaige Verurteilung hier um so mehr, als die Sachverständigen, denen das Landgericht auch insoweit folgt, hervorgehoben haben, daß K. Kö. die Übernahme förmlicher Verantwortung für ihre Vorwürfe durch Erstattung einer Strafanzeige vermieden habe und daß die "Validität", also der Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen in den stationären Therapien nicht hinreichend geprüft worden sei; diese hätten in erster Linie die Minderung ihres subjektiven Leidensdrucks bezweckt. Die Strafkammer hat überdies festgestellt, daß es zwischen K. Kö. und dem Angeklagten auch nach dem angenommenen Tatzeitraum wiederholt zu heftigem Streit im häuslichen Bereich gekommen war. Darüber hinaus waren aus den genannten Gründen die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in hohem Maße eingeschränkt; auch er und sein Verteidiger vermochten K. Kö. nicht zu befragen. Unter all diesen Umständen war der Beweiswert der Äußerungen K. Kö. s von vornherein erheblich gemindert (vgl. dazu auch BGHSt 46, 93, 103).

c) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht gerecht geworden. Es hat die Anforderungen an seine Überzeugungsbildung indessen auch nicht überspannt. Seine Beweiswürdigung leidet schließlich nicht unter einem durchgreifenden Erörterungsmangel.

aa) Die Beschwerdeführerin meint, die Urteilsfeststellungen seien "unzureichend"; die Strafkammer habe die Zeugenaussagen nur teilweise wiedergegeben. Belastende Bekundungen der Zeuginnen St. und I. Kö. fänden sich nicht im Urteil und die Strafkammer setze sich nicht mit ihnen auseinander.

Die Beanstandung greift nicht durch. Die Strafkammer hat den für sie überzeugungskräftig feststellbaren Sachverhalt in den Urteilsgründen dargestellt (UA S. 6 bis 20 unter II.). Im Zusammenhang mit der folgenden Beweiswürdigung (UA S. 21 ff. unter III.) ergibt sich ohne weiteres, auf welche Beweismittel sich die Kammer dabei stützt. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann keine Rede davon sein, daß Feststellungen und die Wiedergabe der Zeugenaussagen "undurchschaubar ineinander übergingen". Eine vollständige Dokumentation aller Zeugenaussagen in den Urteilsgründen würde im übrigen deren Zweck verfehlen (vgl. nur BGH NStZ 1998, 51). Der Hinweis auf das Fehlen einer Auseinandersetzung mit im Urteil nicht erwähnten belastenden Angaben, die auch die Revision nicht näher darlegt, geht ins Leere. Der sachlich-rechtlichen Überprüfung ist allein das zugrundezulegen, was sich aus dem Urteil selbst ergibt.

bb) Der Revision ist allerdings einzuräumen, daß eine ausdrückliche Erörterung der Bedeutung des Hinweises auf einen stattgefundenen sexuellen Mißbrauch, der sich aus den kurzen Abschiedszeilen ergibt, welche K. Kö. vor ihrer Selbsttötung geschrieben hat, in der Beweiswürdigung fehlt. Das erweist sich unter den im übrigen gegebenen Umständen jedoch nicht als Beweiswürdigungslücke.

Die in Rede stehenden Zeilen waren im Blick auf die Tatvorwürfe ersichtlich von geringem Aussagegehalt. Sie bleiben inhaltlich noch hinter dem zurück, was K. Kö. anderen erzählt hatte; sie lauten: "Ich fühle mich wie ein Zombie, wie eine lebendige Tote. Schon zu lange. Mißbrauch - es zerfrißt mich von innen wie ein tödliches Krebsgeschwür. Es tut mir so leid. Ich habe euch so lieb. Ihr habt alle versucht mir zu helfen." Diese Empfindungen stehen ohne weiteres mit der These im Einklang, daß K. Kö. lediglich glaubte, als Kind sexuell von ihrem Vater mißbraucht worden zu sein. Ein gegenläufiger Erkenntnisgewinn von Gewicht läßt sich aus ihnen ersichtlich nicht ziehen. Es erscheint ausgeschlossen, daß die ausdrückliche Einbeziehung des Inhalts dieser Abschiedszeilen in die Gesamtschau aller Beweisumstände die Zweifel der Strafkammer hätte ausräumen und gar eine tragfähige Grundlage für eine Verurteilung hätte mitbegründen können.

cc) Die Strafkammer hat sich nicht etwa auf einen nicht bestehenden allgemein-gültigen Erfahrungssatz gestützt. Soweit die Kammer bei ihrer Beweiswürdigung erwähnt, daß Bruder und Mutter von K. Kö. trotz der Vielzahl der Fälle und der Hellhörigkeit des Hauses über Jahre hinweg nichts aufgefallen sei, daß K. Kö. im Sommer 1988 allein mit dem Angeklagten zurück an den Urlaubsort nach Jugoslawien fuhr und ohne Probleme schon früh sexuelle Beziehungen zu Männern unterhielt, bezieht sie in ihre Würdigung einzelne Umstände ein, die zumal in der Summe mit weiteren Tatsachen und in der Gesamtschau ihre Zweifel an der Richtigkeit der Tatvorwürfe begründeten. Damit hat sie entgegen der Auffassung der Revision nicht etwa allgemein-gültige Erfahrungssätze zugrundegelegt, die keine Ausnahme zulassen und schlechthin zwingende Folgerungen ergeben. Vielmehr handelt es sich um auf Erfahrung beruhende Einsichten, die nur Wahrscheinlichkeitsbewertungen ermöglichen, welche die zu beweisende Tatsache also wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen, die der Richter aber erst anhand weiterer Beweisanzeichen prüfen und in die Gesamtbewertung der Beweise einstellen muß (vgl. BGHSt 31, 86, 89 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 337 Rdn. 31). Daß die genannten Umstände hier möglicherweise auch anders hätten bewertet werden können, erweist sich deshalb nicht als rechtlicher Mangel der Beweiswürdigung.

dd) Die Beschwerdeführerin rügt vergebens die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. F. . Sie meint, die Beweiswürdigung sei Aufgabe des Tatrichters, der sich nur in Ausnahmefällen eines Sachverständigen bedienen dürfe. Damit will sie erkennbar darauf hinaus, daß der Tatrichter ihres Erachtens seine Verantwortung für die Urteilsfindung auf den Sachverständigen abgeschoben habe. Zudem sei es hier unmöglich, so die Revision weiter, aufgrund der Aussagen "aus zweiter Hand" ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben einer nicht mehr lebenden Zeugin zu erstellen.

Diese Sicht ist von Rechtsirrtum bestimmt. Die Beschwerdeführerin verkennt, daß es gerade dann, wenn wie im vorliegenden Falle die Beweiswürdigung schwierig ist und die maßgebliche Auskunftsperson Fragen aus dem Bereich der Aussagepsychologie und der Jugendpsychiatrie aufwirft, die Pflicht des Tatrichters sein kann (vgl. § 244 Abs. 2 StPO), sich sachverständig beraten zu lassen. Das gilt auch dann, wenn die betreffende Auskunftsperson selbst weder für eine unmittelbare Aussage noch für eine Exploration oder Untersuchung zur Verfügung steht. Daß die tatsächliche Grundlage für Anknüpfungen dann möglicherweise eher schmal ist, schließt die Einholung sachverständigen Rates nicht aus. Es ist Sache des Sachverständigen, mit zu beurteilen, ob die gegebene Anknüpfungsgrundlage für eine Bewertung ausreicht und wie verläßlich und aussagekräftig diese sein kann. Die Beschwerdeführerin erkennt in diesem Zusammenhang jedoch zutreffend, daß die Besonderheiten dieses Verfahrens Schwierigkeiten für die Beurteilung der Äußerungen K. Kö. s gegenüber Dritten begründeten. Das gilt indessen auch und gerade für den Tatrichter. Diesem dann aber verfahrensrechtlich vorwerfen zu wollen, daß er sich für seine Überzeugungsbildung auch des Rates zweier Sachverständiger versichert hat, führt ins Abseits.

Das Landgericht hat seine Pflicht zur eigenen Überzeugungsbildung schließlich nicht auf den aussagepsychologischen Sachverständigen verschoben, sondern dessen Gutachten bei der gebotenen umfassenden Bewertung der Indiztatsachen lediglich unterstützend herangezogen. Es hat zunächst die Gründe seiner Zweifel am objektiven Wahrheitsgehalt der Darstellungen K. Kö. s begründet und erst im Anschluß hervorgehoben, daß diese durch die eingeholten Gutachten "verstärkt und bestätigt" würden (UA S. 25; siehe auch UA S. 37 unten).

ee) Die weiteren Einwände der Beschwerdeführerin erweisen sich in der Sache lediglich als unerhebliche Angriffe auf die tatrichterliche Beweiswürdigung. Damit wird nur der Versuch einer abweichenden Bewertung unternommen, der einer Revision nicht zum Erfolg zu verhelfen vermag.

d) Abschließend bemerkt der Senat, daß der Bestand des freisprechenden Urteils hier auch nicht durch die fehlende ausdrückliche Gesamtschau aller be- und entlastenden Beweisanzeichen gefährdet wird. Die Strafkammer hat die für eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Tatsachen festgestellt und in ihrer Beweiswürdigung vornehmlich die Gründe für ihre Zweifel daran dargestellt. Es kann ausgeschlossen werden, daß ihr dabei die belastenden Umstände aus dem Blick geraten sein könnten.

Externe Fundstellen: NStZ 2002, 656

Bearbeiter: Karsten Gaede